Corona: Leeres Parkett an der Wall Street
Peter Tuchman sitzt im dunkelblauen Kapuzenpulli in seiner New Yorker Wohnung. So leger ist der wohl bekannteste Börsenhändler der Wall Street mit den wilden weißen Haaren sonst nie zu sehen. Denn für das legendäre Börsenparkett gilt eine strenge Kleiderordnung, die so historisch ist, wie die New York Stock Exchange (kurz NYSE) selbst: ohne Businessanzug und Krawatte geht normalerweise nichts.
Aufgrund seines Looks trägt er auch den Beinamen „Einstein der Wall Street“. Peter Tuchman ist auch der meistfotografierte Börsianer. Denn sein Gesichtsausdruck spiegelt in einer einzigartigen Weise die volle Bandbreite des Börsengeschehens wieder: von Triumph bis zu völliger Verzweiflung.
Im Moment sieht er noch etwas mitgenommen aus, doch seine Augen funkeln wie eh und je. Peter Tuchman ist der einzige Händler, den das Coronavirus heftig in die Knie gezwungen hat. 47 Tage war er sehr krank. Mittlerweile ist er genesen und er kann es kaum erwarten, zurück an die Wall Street zu gehen.
„Ich liebe diesen Ort, ich betrachte ihn nicht einmal als Job. Ich liebe, was ich tue, die Energie der Leute, die Energie des Börsensaals und der Geschichte. Es ist einfach die großartigste Finanzinstitution der Welt. Ich bin aber gleichzeitig sehr besorgt über die Wiedereröffnung des Börsenparketts. Denn ich hatte das Virus und es hat mich fast umgebracht.“
Im Zentrum des Kapitalismus'
Die berühmte Börse wird in mehreren Wellen wieder aufgesperrt, Tuchman wird erst in der zweiten Welle dabei sein. Er schickt seinen Sohn Benjamin vor, der für ihn die Geschäfte der Firma erledigt.
Die Fassade der New Yorker Börse im klassizistischen Stil an der Kreuzung zwischen Wall Street und Broad Street im historischen Financial District ist auch das Gesicht des globalen Kapitalismus. Die gerade einmal 600 Meter lange Wall Street gilt als Machtzentrale der Finanzindustrie.
Aufschwünge und Abstürze
Große Börsenaufschwünge, aber auch Abstürze, nehmen hier ihren Anfang. Das alte Sprichwort „Wenn die Wall Street hustet, bekommt der Rest der Welt eine Grippe“, gilt noch immer. Die New York Stock Exchange ist mit Abstand die größte Börse der Welt.
Hier werden täglich mehrere Milliarden Aktien gehandelt. Die Marktkapitalisierung der rund 2.200 gelisteten Unternehmen beläuft sich auf 28.000 Milliarden Dollar. Was hier passiert, ist maßgeblich für viele andere Börsen weltweit, auch in Wien.
50.000 Milliarden Dollar
Heuer haben sich Unternehmen bereits frisches Geld in der Höhe von 50.000 Milliarden Dollar von den Investoren an der Wall Street geholt. Allein in den letzten zwei Monaten, während das Parkett geschlossen war, sind es 31.000 Milliarden gewesen. Unvorstellbare Summen.
Der Dow-Jones-Index mit den 30 größten US-Unternehmen ist von Charles Dow und Edward Jones 1884 geschaffen worden und ist nicht nur eines der ältesten, sondern auch eines der bedeutendsten Börsenbarometer der Welt.
Broker auf Abstand
Stacey Cunningham, die erste weibliche Präsidentin der New York Stock Exchange, hat das Handelsparkett nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie so lange wie möglich offengehalten. Denn der „Trading Floor“ hat auch eine Symbolkraft für die Anleger.
Sie organisierte einen extra Eingang für die Händler, damit diese keinen Kontakt zu anderen Mitarbeitern der Börse hatten und organisierte eine separate kleine Kantine. Medizinisches Personal hat jeden Morgen die Temperatur der Händler mit Fieberthermometern gecheckt.
Nur wer keine erhöhte Körpertemperatur hatte, durfte auf das altehrwürdige Parkett. Eine der letzten Präsenzbörsen der Welt. „Wir sind der einzige Markt mit Händlern auf dem Parkett und speziellen Schutzmechanismen – die aktivieren sich in mehreren Stufen, wenn die Kurse aufgrund eines Ereignisses zu stark schwanken“, erklärt Tuchman.
„Bizarre Realität“
Wie war das für ihn und die anderen Händler, als der Coronavirus sich mit aller Gewalt auch auf die Börse niedergeschlagen hat, als der Markt zusammengebrochen und der Handel ausgesetzt worden ist? „Es war eine bizarre Realität,“ sagt Tuchman. „Als der Markt gecrasht ist, war die Unruhe groß.
Und als klar war, dass die Wirtschaft den Bach runtergeht, dass Menschen zu Tausenden gestorben sind, die Welt zum Stillstand kam, da ist dann die Unruhe und Angst auch in dieser mächtigen Börsenhalle aufgestiegen. Du konntest es mit Händen greifen. Die Angst, die Unruhe und die Krise. Du konntest den Pulsschlag fühlen, was da weltweit passiert ist.“
Krisenerprobt
New York ist krisenerprobt und doch war es diesmal komplett neu. Tuchman erzählt: „Es gibt kein Drehbuch für so eine Krise, so etwas haben wir noch nie gesehen. Erst merkst du die Angst bei den Leuten in deinem Arbeitsumfeld. Die Märkte fallen und jeder versucht, das Beste für seine Kunden zu tun. Dann bekommst du mit, dass die Anleger Angst haben, dass ihre Pensionsvorsorge das Klo runtergespült wird.
Und dann realisierst du, dass wir uns um die Gesundheit und das Wohlergehen unserer eigenen Familien, Eltern und Großeltern Sorgen machen müssen. Das war eine zutiefst menschliche Erfahrung. Ich war da beim Börsenkrach 1987, bei den Terroranschlägen von 9/11 und bei der Finanzkrise. Das hat sich alles sehr finanziell angefühlt. Natürlich waren auch da Unruhe und Angst zu spüren, aber du hast niemals den perfekten Sturm gespürt.“
Leeres Parkett
Als Ende März auch eine weitere Person die Fieberkontrolle nicht bestanden hatte und positiv auf das Coronavirus getestet worden ist, ordnete die Chefin der New Yorker Börse an, das Parkett zu räumen. Das hatte es noch nie zuvor in der fast 230-jährigen Geschichte gegeben.
Der Handel ist in der Folge zum ersten Mal vollkommen elektronisch, aber gleichzeitig auch reibungslos über die Bühne gegangen. Auch für Stacey Cunningham war das bislang die größte Bewährungsprobe. Auf dem Parkett wimmelt es normalerweise nur so von Händlern, Assistenten und Journalisten. Freilich weniger als noch vor einigen Jahren.
Elektrizität und Emotionen
„Es war großartig. Und da muss man gar nicht so weit zurückgehen. Bevor die NYSE selbst an die Börse gegangen ist, haben fast 5000 Leute auf dem Parkett gearbeitet. Jetzt waren es gerade noch 800. Es war wie ein Bienenstock voller Leben, Elektrizität und Emotionen jeden Tag. 50 Jahre lang habe ich das gemacht. Es war wie eine riesige Familie. Es war eine extrem einzigartige und spezielle Umgebung, die es so wahrscheinlich nie wiedergeben wird,“ schwärmt der 80-jährige Börsenhändler Ted Weisberg und Präsident von Seaport Securities.
Was gleichgeblieben ist, das ist das Läuten der Börsenglocke zu Handelsbeginn und Handelsende. Das ist nach wie vor eine Ehrenhandlung, die jeden Tag ein anderer Gast übernehmen darf. Zum Beispiel der Chef eines Unternehmens, das gerade an die Börse geht, Aktien ausgibt und sich frisches Geld vom Kapitalmarkt holt.
Coca Cola, McDonalds, IBM, Apple
Wenn es sich um ein bekanntes, vielversprechendes Unternehmen handelt, dann ist die Stimmung am Siedepunkt, die Händler stehen unter Hochspannung, Fotografen versuchen, die besten Bilder bei den ersten Aktienkursen zu erheischen.
An den Tradingposts leuchten abwechselnd die Namen von bekannten Marken wie dem Konsumgüterriesen Coca Cola oder McDonalds sowie dem Jeanshersteller Levis. Hier flackern aber auch die Kursbewegungen von Techgiganten wie Apple, IBM oder des Ölkonzerns Exxon Mobil über die Bildschirme. Oder von Dynatrace, einem in Oberösterreich gegründeten Software-Unternehmen.
80 Prozent des Handels werden längst elektronisch abgewickelt, der Rest am Parkett. Für manch einen ist es aber zum Teil nur noch eine Show, wie Richard Sylla meint. Der Ökonom ist auch Chef des Museums of American Finance und einer der führenden Experten für amerikanische Finanz-Geschichte.
„Ich habe mehrmals die Börsenglocke geläutet zu Handelsbeginn oder Ende. Früher hat der Handel in mehreren Räumen stattgefunden, jetzt ist es nur noch ein großer Raum.
Zurück auf’s Parkett
Die letzten zwei Monate haben gezeigt, dass es auch ohne Trading Floor geht. Aber dahinter stecken mehr als 200 Jahre Tradition und es ist schwer, das loszulassen. Die Börse sieht das natürlich anders. Sie sagen, das hat wirklich einen Wert. Und die Börsianer können sich in die Augen schauen und bekommen mit, was los ist.
Sie argumentieren, wenn es zu Beginn und Ende des Handels ein Ungleichgewicht gibt zwischen Käufen und Verkäufen, dann können die Händler das am Parkett effizienter ausgleichen, als elektronisch. Da mag wohl was dran sein. Aber ich würde sagen, dass die Effizienz nur zehn Prozent ausmacht, der Rest ist symbolisch.“
„Bürgermeister der Wall Street“
Der 80-jährige Börsenhändler Ted Weisberg, mit dem Spitznamen „Bürgermeister der Wall Street“, hat 50 Jahre lang das blaue Händlerjacket getragen, jetzt tätigt er seine Käufe und Verkäufe von den Bermudas aus. Er sitzt durch die Coronakrise noch immer fest.
Diesen Luxus hat der „Einstein der Wallstreet“ nicht. „Manche Geschäftsmodelle können weltweit über elektronische Plattformen gehandelt werden. Andere, wie ich nutzen Markteröffnungen und das Handelsende. Und dafür brauchen wir Informationen, die es nur auf dem Trading Floor gibt,“ so Tuchman, der gerade sein 35-jähriges Wallstreet-Jubiläum feiert.
Kleine, unabhängige Handelsfirmen wie seine waren laut Börsenchefin Cunningham am stärksten von der Schließung betroffen. In der ersten Welle werden etwa 25 Prozent der Händler auf das Parkett zurückkehren. Und mit dem Börsenhandel am Parkett würde man schließlich auch wieder wesentlich größere Aufträge sehen, so Cunningham. Sowohl bei Käufen, als auch bei Verkäufen.
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