Amir Kassaei war 15 Jahre alt, als er allein in Österreich ankam. Er floh aus dem Iran, wo er als Kindersoldat den Kanonen zum Fraß vorgeworfen wurde. Von einem Perchtoldsdorfer Kellerabteil aus, kämpfte er sich durch. Machte die Matura, nahm jeden Job an, den er bekam, verbiss sich irgendwann in die Werbebranche und ließ sie nicht mehr los. Bis er mit 51, auf seinem beruflichen Höhepunkt, seiner Karriere ein Ende setzte. Jetzt hat er seine Biografie veröffentlicht.
KURIER:Sie haben sich alles, was Sie im Berufsleben je gebraucht haben, selbst angeeignet. Deutsch binnen weniger Wochen, das Know-how eines Werbers und Kreativen im intensiven Selbststudium. Wie stolz macht Sie das?
Amir Kassaei: Mir ist nichts anderes übrig geblieben. Es war hart, aber gerade, weil ich es selbst und so holistisch gemacht habe, hat mir das auf meinem weiteren beruflichen Weg extrem geholfen.
Erwarten wir heute zu sehr, dass einem der berufliche Weg schon in der Ausbildung bereitet wird?
Ich habe weder in der Schule noch an der Uni das Rüstzeug gelernt, das mich auf das Leben vorbereitet hat. Man muss selbst den Anspruch haben, immer Lehrling zu sein, neue Sachen zu entdecken. Das Grundgerüst kann die Schule oder die Uni mitgeben, aber den Rest muss man sich selbst erarbeiten.
"Meine geliebte Oma" schreibt Kassaei in seiner Biografie unter diesem Bild. Sie kam ihn besuchen, als er in Frankreich studierte. Und starb noch in der ersten Nacht ihres Besuchs aufgrund eines Schlaganfalls in seinen Armen
Sie lebten für Ihren Beruf. Wenn „die 24 Stunden des Tages nicht ausreichten, nahm ich die Nacht dazu“, sagen Sie. Hätte Ihnen mehr Work-Life-Balance gutgetan?
Es war eine Leidenschaft, deswegen habe ich es nie als Anstrengung gesehen. Aber es kann nicht gesund sein, über 30 Jahre konstant und rund um die Uhr für den Beruf da zu sein und alles andere zu vernachlässigen. Das ist lebensperspektivisch eher fragwürdig.
Also können Sie als ehemaliger Workaholic der neuen geringen Leistungsbereitschaft etwas abgewinnen?
Zur Work-Life-Balance gehört mehr dazu, als nur die berufliche Erfüllung. Aber auch, wenn der berufliche Teil nur mehr vierzig Prozent einnimmt statt hundert, sollte der Anspruch nicht fehlen. Wenn man anspruchslos durchs Leben geht, dann hat man seine Rolle verwirkt.
Lässt sich unser Wohlstand mit vierzig Prozent erhalten?
Zum Wohlstand gehört definitiv Leistung dazu. Wie diese heutzutage aussieht, muss die neue Generation selbst definieren. Aber wenn sie den Lebensstandard, den sie hat, erhalten will, wird es ohne Anstrengung nicht gehen.
1993 startete Kassaeis Karriere als Werber bei der Wiener Agentur Bárci & Partner. Später sollte er als erster Nicht-Amerikaner die New Yorker Agentur DDB Worldwide leiten. Anstrengung und ein rauer Ton war jenen bekannt, die mit und unter Kassaei arbeiteten. Nicht umsonst nannte er sich „Chief Asshole Officer“.
Sie schreiben, dass Sie heute für Ihre Art zu führen, vermutlich verklagt würden. Was haben Sie gemacht, das so schlimm war?
Ich bin ja Vertreter einer anderen Generation, einer anderen Zeit gewesen. Da ging es wirklich darum, die restlichen zwanzig oder dreißig Prozent aus den Leuten rauszuholen. Das wurde gemacht, indem sie gefördert, aber auch gefordert wurden.
Wie sah das konkret aus?
Das Fordern konnte obsessiv und laut werden. Ich war nie persönlich in dem Sinn, dass ich Menschen beleidigt habe. Aber man pusht sie in eine Drucksituation. Die gesellschaftliche Wahrnehmung hat sich hier verändert – würde ich heute so an die Leute rangehen, würden einige meinen geistigen Zustand infrage stellen. Oder mir vorwerfen, dass ich als Führungskraft nicht qualifiziert bin.
Sind wir heute so zimperlich?
Die Arbeitswelt funktioniert jetzt anders. Ich glaube schon, dass man Leute motivieren kann, ohne zu laut oder obsessiv zu sein, indem man Werte teilt, Verantwortung übergibt, Sorgen ernstnimmt. Wir hatten damals eine andere Herangehensweise, die sich aber überholt hat.
Ich war nie persönlich in dem Sinn, dass ich Menschen beleidigt habe. Aber man pusht sie in eine Drucksituation.
von Amir Kassaei
über das damalige Verständnis von Führung
Bereuen Sie Ihren damaligen Zugang?
Ich habe nie etwas gefordert, das ich selbst nicht geliefert habe. Man kann keine Sprüche klopfen, wenn man es selbst nicht lebt. Aber gesund ist das nicht. Wenn Sie sich mein Leben anschauen: Ich habe zwei gescheiterte Ehen hinter mir, habe wenig Zeit gehabt, meine Kinder aufwachsen zu sehen. Das ist der Preis, den ich gezahlt habe. Und das ist es im Nachhinein gesehen nicht wert.
Stunden haben Sie und Ihr Team keine gezählt, das Tageslicht kaum zu Gesicht bekommen. Heute würde die Zeiterfassung in dieser Branche bei zwölf Stunden laut aufschreien. Ist das schade oder auch ein Relikt der Zeit?
Ich bin kein Politiker und kein Gewerkschafter, kann nicht beurteilen, wie man das macht. Aber wenn Menschen für etwas brennen und wenn sie an Ideen arbeiten, die uns allen guttun, muss man ihnen auch die Möglichkeit geben, sich intensiv damit auseinanderzusetzen. Ohne dass sie in eine Erklärungsnot kommen, warum das länger als acht oder zehn Stunden gedauert hat.
Man weiß, Menschen verlassen Unternehmen oft aufgrund ihrer Führungskräfte. Aber sie suchen sie auch nach diesen aus. Was hat bei Ihnen überwogen?
Verlassen haben mich die Leute hauptsächlich, weil sie auf ein nächstes Level gekommen sind. Wenige sind wegen mir oder meiner Art gegangen. Aber es ist wichtig, dass die Leute irgendwann erwachsen und erfahren genug sind, ihren eigenen Weg zu gehen. Da darf man dann auch nicht beleidigt oder gekränkt sein. Ich habe das selbst erlebt mit Vorgesetzten, die menschlich nicht richtig reagiert haben. Deswegen habe ich mir vorgenommen, dass mir das nie passieren wird.
2020 der große Knall: Kassaei verabschiedet sich komplett aus der Werbung. Die Branche habe sich selbst abgeschafft, kritisiert er. Und macht sich wenig Freunde damit.
Was war das überraschendste für Sie nach dieser plötzlichen Zäsur?
Die erste Zeit war wirklich hart. Das werden auch andere bestätigen, die einen ähnlich verantwortungsvollen Job hatten. Wir sind ja alle Ego-getriebene Wesen. Das kleine Tier, das auf unserer Schulter sitzt, das füttern wir unbewusst. Irgendwann wird es so groß, dass man sich selbst nicht mehr sieht.
Wie eine Art Pensionsschock also, nur mit 51 Jahren.
Ich bin auf dem Höhepunkt raus. Da ist man in einem ganz anderen Kontext im Leben. Ich denke, das ist dann noch schwieriger, als wenn man schon in der natürlichen Phase angekommen ist, in der man aus dem Berufsleben ausscheidet. Man fällt in ein mentales Loch, weil man auf einmal nicht mehr gebraucht wird, weil man die Bestätigung nicht mehr bekommt, keiner mehr anruft, keine Termine bekommt und den Wecker nicht mehr stellen muss. Wichtig ist, mental stark genug zu sein und zu verstehen, dass jetzt eine neue Lebensphase anfängt.
Ihr beruflicher Erfolg war zu erfolgreich, schreiben Sie. Ist das der Grund, warum manche nach Ihrer Karriere auf Tauchstation gegangen sind und sich nicht mehr bei Ihnen gemeldet haben?
Ja klar, weil es ist ja immer Neid und Missgunst im Spiel. Die größte Enttäuschung war weniger, dass sich keiner mehr gemeldet hat. Sondern vom Radar von Leuten zu verschwinden, denen ich den Weg geebnet habe. Das ist menschlich enttäuschend.
Amir Kassaei wurde 1968 im Iran geboren – dem für ihn schönsten Land der Welt, bis der Krieg dieses Bild zerstörte. Als Kindersoldat musste er als Kanonenfutter ein Jahr an die Front. Es ist ein Wunder, dass er überlebte. Alles, was nach seinem 15. Geburtstag passiert, nimmt er als Zugabe
Mittels Schlepper floh er über Istanbul nach Wien, wo er 1983 landete und die Schule besuchte. Er war allein, hielt sich mit Jobs wie Schneeschaufeln und Toiletten putzen über Wasser. Später studierte er in Frankreich, absolvierte den Zivildienst mit 28 in einem Hospiz
In der Werbung legte er eine steile Karriere hin. War auf seinem Höhepunkt u. a. CCO bei DDB Worldwide und Präsident beim Festival of Creativity in Cannes
Heute lebt er auf der Insel Ibiza. Er hat vier Kinder
Warum aber eine solche Abrechnung mit der Branche?
Die Ur-Zielsetzung von Marketing – eine Verbindung zwischen Marken und Menschen aufzubauen – ist grandios gescheitert. Trotz des technologischen Fortschritts. Da müssen wir uns hinterfragen, warum ist das so? Dass uns die Leute als Ballast sehen und als jemand, der ihnen die Zeit stiehlt.
Aber ist das der Branche per se geschuldet, die banaler wurde oder den Kunden, die immer vorsichtiger sind?
Die Erstverantwortung liegt an uns Kommunikationsdienstleistern, weil wir unsere Daseinsberechtigung vergessen haben. Wir waren Berater von Unternehmen und halfen diesen, mit unserem Talent und unserer Expertise, dass ihre Marken und ihre Produkte eine relevante Rolle im Leben der Menschen spielen. Das war unsere Aufgabe. Aber wir haben diesen Anspruch aufgegeben, uns viel mehr mit uns selbst beschäftigt und mit Nebenschauplätzen. Dann haben wir angefangen, ein Produkt abzuliefern, das eine Commodity (übersetzt gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand) ist. Und die kann man an jeder Ecke billiger und besser kaufen und die Auftraggeber haben genauso darauf reagiert. Man wurde austauschbar. Ich hoffe, dass die neue Generation diese Lektion lernt, sich wieder rückbesinnt, auf unsere eigene Verantwortung und diese Industrie sich wieder neu definiert. Denn solange es einen freien Markt gibt, wird es Marketing brauchen.
Wann haben Sie zuletzt gedacht: Diese Werbung war wirklich gut – abgesehen von Ihren eigenen Kreationen.
Ich glaube, das ist mehr als zehn Jahre her. Weltweit gesehen. Ich bin ja jetzt Verbraucher wie Sie. Und erschrecke mich dabei, dass keine dieser Marken oder Unternehmen es schafft, eine relevante Rolle in meinem Leben zu spielen. Das ist verheerend.
Wie sehr juckt es Sie in den Fingern, in die Werbung zurückzukehren?
Es juckt mich nicht, aber ich liebe Werbung. Werbung war die größte Liebe meines Lebens. Sollte mich irgendwann jemand nach meiner Unterstützung fragen, dann kommt es auf die Situation und auf den Beitrag an, den ich leisten kann. Aber ich hatte das Riesenglück in der goldenen Zeit von Marketing und Werbung aktiv zu sein und die Zeiten sind halt leider vorbei. Aber man darf nicht nostalgisch sein. Alles hat seine Zeit im Leben.
Was hat Sie in Ihrer Karriere am meisten stolz gemacht?
Dass ich weiß, dass es nichts gibt, das unmöglich ist. Dass ein kleines Flüchtlingskind aus dem Iran jeden Job gemacht hat, per Zufall in die Werbung reinrutscht und dann der Kreativchef der größten und besten Werbeagentur der Welt wurde. Es ist der Beweis, dass wir es alle in uns drinnen haben. Dass es nichts mit Glück oder den richtigen Beziehungen zu tun hat. Sondern mit der Leidenschaft und dem Willen. Wenn meine Lebensgeschichte eine Inspiration ist, dann ist das großartig. Dieser Weg macht mich am meisten stolz.
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