Hunger ist ein Verbrechen

Hunger ist ein Verbrechen
Jean Ziegler wettert gegen Spekulationen auf Nahrung und Biotreibstoff – und hält am Dienstag die Eröffnungsrede bei den Medientagen.

Raubgesindel, Geldsäcke, neoliberale WahnideenJean Ziegler ist in der Wortwahl nicht zimperlich, wenn er die aus seiner Sicht Schuldigen am Hunger in der Welt benennt. Als Eröffnungsredner der Salzburger Festspiele 2011 wurde er wieder ausgeladen – offiziell wegen seiner angeblichen Nähe zu Libyens Gaddafi; wegen der Angst der Festspielverantwortlichen vor verschreckten Sponsoren, sagt Ziegler. Seinen Kampf hat der Schweizer nicht aufgegeben: Soeben erschien sein neues Buch ("Wir lassen sie verhungern"), in dem er Börsenspekulationen auf Nahrungsmittel und die Biotreibstoffproduktion geißelt. Bei den am Dienstag beginnenden Medientagen in Wien hält er die Eröffnungsrede.

KURIER: Was werden Sie Österreichs Medienschaffenden heute denn erzählen?
Jean Ziegler: Dass die Medien die vierte Gewalt im Staat sind, unglaublich wichtig, ja der Atem der Demokratie, die aber keiner Kontrolle unterworfen sind. Und dass die Massenvernichtung durch den Hunger, der absolute Skandal unserer Zeit, weitgehend verschwiegen wird.

Aber gerade die Medien berichten doch?
Es wird über Ereignisse berichtet, aber ohne Kausalzusammenhang. Am Horn von Afrika sind 18 Millionen Menschen in fünf Ländern vom Hunger betroffen, es gibt eine Dürre seit fünf Jahren – aber warum es die gibt, warum nur 3,8 Prozent des schwarzafrikanischen Bodens bewässert sind, warum diese Staaten keine Nahrungsmittelvorräte angelegt haben, das wird nicht gefragt. Dann käme man nämlich auf die Ursachen: Die Auslandsverschuldung der ärmsten Länder, die Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel ...

In ihrem neuen Buch legen Sie sich mit der UNO an, mit dem Währungsfonds, mit den Händlern an den Börsen – haben Sie nicht schon genug Feinde?
Doch, aber die Anwälte haben ohnehin ein Drittel aus dem Buch herausgestrichen.

Sie waren der erste Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung – wieso ist die UNO jetzt als "bürokratischer Dinosaurier" mitschuld am Hunger?
Weil der unfähige und farblose Südkoreaner an der Spitze (Ban ki moon) ein Söldner der Amerikaner und damit der Weltbank, der Welthandelsorganisation und des Währungsfonds ist. Und weil die Hoffnung, die ich in den Ländern geweckt habe, die ich besuchte, und meine Empfehlungen in New York eiskalt abgeblitzt sind. Nehmen Sie Guatemala und die dringend nötige Agrarreform: Dort besitzen 1,8 Prozent der Grundbesitzer 57 Prozent der Ackerflächen, 90 Prozent der Bevölkerung leben auf steinigem Boden ...

Aber die UNO kann ja einen Staat nicht zur Landreform zwingen.
Sie haben recht. Aber ein Land wie Guatemala lebt von Weltbankkrediten, von Kooperationskrediten des UNO-Entwicklungsdepartments. Über die Vergabe kann man eine Agrarreform schon erzwingen. Aber das wollen die USA nicht, weil ihre Konzerne dort dominierend sind. Und die UNO folgt brav.

Die Konzerne und der Markt sind schuld am Hunger?
Die Sowjetunion ist 1991 zusammengebrochen, und das war gut so – die waren korrupt, eine Diktatur und so kommunistisch, wie ich buddhistisch bin. Aber dann hat der kapitalistische Produktionsprozess die Welt wie ein Buschfeuer erobert. Die Neoliberalen sagen, der Hunger ist schrecklich, aber die Lösung ist nicht der normative Eingriff, sondern die Selbstregulierung des Marktes, mehr Privatisierungen. Und wenn sich der Markt einmal ganz frei entfalten kann, steigt die Produktion und der Hunger wird resorbiert. Jetzt haben wir das seit mehr als 20 Jahren, und die Produktionskräfte sind tatsächlich gestiegen – aber die Opferzahlen an Hunger auch. Das heißt: Die gelebte Realität dementiert radikal die neoliberale Wahnidee.

Aber wenn Sie schreiben, dass die Weltlandwirtschaft 12 Milliarden Menschen normal ernähren könnte, dann kann sie das ja nur durch die Industrialisierung, durch die großen Konzerne?
Die produktivste Landwirtschaft sind immer noch die Familienbetriebe. Aber es stimmt: Die Konzerne produzieren enorm. Das Problem ist ja nicht die Produktion, sondern der Zugang zur Nahrung. Die zehn größten Konzerne der Welt kontrollieren 85 Prozent der gehandelten Grundnahrungsmittel Reis, Weizen und Mais – und die funktionieren natürlich nur nach Profitmaximierung, das ist ja klar. Daher kommt die Nahrung nicht dorthin, wo sie fehlt, weil sie an die Kaufkraft gebunden ist. Länder wie Haiti, die früher selbst Reis produzierten, denen dann die Schutzzölle weggenommen wurden, um sie mit ausländischem Reis zu überschwemmen, verloren dadurch ihre Landwirtschaft und können sich heute den inzwischen horrend teuren Reis nicht mehr leisten.

Trotzdem: Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren, lautet Ihr Mantra seit Jahren – die Unicef sagte jetzt, die Kindersterblichkeit auf der Welt hat sich in den letzten 20 Jahren fast halbiert. Was stimmt?
Beides. Wenn sie die steigende Bevölkerungskurve mit der Hungerkurve vergleichen, dann gehen die Opferzahlen in Relation zurück. Aber die absolute Zahl der Opfer steigt. Und jedes Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Punkt.

Was haben die Spekulationen auf den Rohstoffmärkten mit dem Hunger zu tun?
Die Tigerhaie, also die großen Hedgefonds und Spekulanten, sind von den Finanzmärkten auf die Agrarrohstoffmärkte umgestiegen und machen dort astronomische Profite. Der Preis für Mais ist in den letzten Monaten um 63 Prozent gestiegen, Reis um 43 Prozent, die Tonne Weizen hat sich verdoppelt ...

Hunger ist ein Verbrechen

Aber ist daran nicht die große Dürre in den USA und auch Osteuropa schuld?
Ja, aber die Spekulation beschleunigt die Preisbewegung, und wie! Und an den Termingeschäften sind immer weniger Käufer und Verkäufer beteiligt.

Spekulative Kontrakte machen an der Börse Chicago schon 80 Prozent aus, stand jüngst zu lesen.
Eben! Es gibt Hedgefonds, die produzieren und liefern nie und führen 12.000 Terminkontrakte und verteuern nur, das ist der Skandal. Es sollte nur noch zum Markt zugelassen werden, wer entweder Produzent oder Verbraucher ist.

Das ist nicht sehr realistisch, oder?
Ich glaube, dass das Bewusstsein der Absurdität dieser Geschäfte steigt. Vor allem deshalb, weil auch in den reichen Ländern die Nahrungsmittelpreise unverhältnismäßig steigen. Also unter dem Druck der Not, dem man jetzt selbst begegnet. Und wenn der Aufstand des Gewissens wächst, hat man die legalen Waffen in der Hand, dem mörderischen Unfug ein Ende zu bereiten. Es genügt, das Börsengesetz zu revidieren.

Und was ist der Skandal am Biotreibstoff?
Die Lüge, die den Horizont beherrscht. Die Klimakatastrophe kommt vom CO2-Ausstoß, das stimmt, aber was nicht stimmt ist, dass Agrartreibstoffe die Antwort sind. Die USA haben vergangenes Jahr für diesen Treibstoff 138 Millionen Tonnen Mais verbrannt und hunderte Millionen Getreide – aber für die Herstellung eines Liters Bioethanol brauchen sie 4000 Liter Wasser. Nicht nur ist Wasser ein knappes Gut auf dieser Welt, auch der CO2-Ausstoß bei dieser Produktion ist unverhältnismäßig und klimazerstörend. Abgesehen davon, dass das Verbrennen von Nahrungsmitteln, das auch die Preise steigen lässt, auf einem Planeten, wo Kinder verhungern, ein Verbrechen ist.

Agrarvertreter sagen, das sind Scheinargumente, weil ein Gutteil der verwendeten Produkte sind Futtermais und -weizen.
Nein, das stimmt nicht. Und auch die jetzt angestrebte zweite Generation der Biotreibstoffe aus Holzspänen kann man vergessen, weil das kostet in der Produktion gleich noch einmal viel mehr. Die Brasilianer wiederum, die den Treibstoffzusatz aus Zuckerrohr machen, dehnen die Zuckerrohrfelder aus und vertreiben die Vieh- und die Landwirtschaft. Im Amazonas wird abgeholzt.

Aber es gibt ein Umdenken: Die EU verabschiedet sich gerade vom angestrebten 10-Prozent-Anteil Bio am Treibstoff auf fünf Prozent, Österreich hat seine Pläne für Biotreibstoff auf Eis gelegt ...
Das ist kein Umdenken, das geschieht einfach auf Druck der öffentlichen Meinung. Aber auch bei fünf Prozent wären in Europa dafür nicht genug Ackerflächen vorhanden.

In Österreich angeblich schon.
Ja, aber in Europa nicht. Deshalb hat die EU mit Mozambique einen Vertrag gemacht, der der EU 28.000 Hektar Agrarland im Süden zur Pflanzung von Zuckerrohr überlässt. Es sind also wieder die Afrikaner, der Hungerkontinent, die draufzahlen. Dagegen müssen wir aufstehen, und da sind wir wieder bei den Medien.

Anderes Thema: Das Steuerabkommen zwischen Deutschland und der Schweiz ...
... ist tot. Der deutsche Finanzminister hat sich über den Tisch ziehen lassen. Erstens ist die Abschleichfrist ja unglaublich, es ist Zeit genug für Steuersünder, die alten Vermögen nach Singapur oder sonstwohin abwandern zu lassen. Zweitens ist die Anonymität für die Steuernachzahler ein völliger Blödsinn, weil ja die Steuerprogression ausgeschlossen wird. Und drittens gibt es für die Steuernachzahlungen keine Kontrolle.

In Deutschland ist das Abkommen fraglich, aber die Schweiz hat es ja schon ratifiziert.
Nein, es wird eine Volksabstimmung geben, und die können wir gewinnen, dagegen. Der Steuerdruck bei uns ist groß genug, dass die Leute sagen, warum sollen wir Steuer zahlen, und der Spekulant aus Deutschland und der Zahnarzt aus Österreich zahlt nichts.

Dann bleibt alles beim Alten.
Nein, was ganz sicher kommen wird, ist eine einheitliche Brüsseler Lösung mit dem automatischen Informationsaustausch – immer, wenn ein Ausländer in der Schweiz ein Konto eröffnet, muss die Bank das dem Heimatland mit Namen und Summe melden. Das ist das Horroszenario für die Schweizer Banken, weil die leben ja mehrheitlich von den Steuerflüchtlingen.

Zur Person: Der unbequeme Rebell

Jean Ziegler ist Schweizer Soziologe, Sachbuchautor und Ex-Politiker, der sich mit massiver Kritik an der Schweizer Politik und Finanzwelt (Rolle im Nationalsozialismus, Holocaust-Gelder auf Schweizer Konten) sowie Globalisierungs- und Kapitalismuskritik international einen Namen gemacht hat. 1934 in Thun geboren, war er Professor für Soziologie an der Uni Genf und an der Pariser Sorbonne, saß für die Sozialdemokratische Partei im Parlament und war ab 2000 neun Jahre UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Zurzeit ist er im beratenden Ausschuss des UN-Menschenrechtsbeirates. Sein jüngstes Buch: „Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“ (Bertelsmann).

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