100 Jahre Gemeindebau: Vom Volkspalast zum Superblock
Im Frühjahr 1919, exakt vor einem Jahrhundert, ließ die Gemeinde Wien den Grundstein für den Metzleinstalerhof am Margaretengürtel legen und begründete damit eines der imposantesten Sozialwohnungsprogramme der Geschichte. Bis heute wurden in 1700 Gemeindebauten 220.000 Wohnungen errichtet, ein Viertel der Wiener lebt in einer Gemeindewohnung. Damit ist die Stadt Wien eine der größten Hausverwaltungen Europas. „Das ursprüngliche Ziel der Gemeindebauten war aber, bessere Menschen zu schaffen. Und zwar durch leistbare Wohnungen und Einrichtungen für Bildung und Körperkultur“, so Werner T. Bauer, Geschäftsführer „Das Rote Wien im Waschsalon“.
Den Prototyp des Gemeindebaus schuf Architekt Hubert Gessner, ein Schüler und Mitarbeiter Otto Wagners, gleich im Metzleinstalerhof: Gessner entwarf eine für diese Zeit untypische, großzügige Hofanlage. Die Stiegen waren über den Innenhof zu erreichen, sodass Kinder sicher ins Grüne gelassen werden konnten. Vorbild für die Höfe waren die Klostergärten des Mittelalters. „Während die damaligen Bauvorschriften nur 15 Prozent Freifläche verlangten, ließen die Gemeindebauten meist die Hälfte der Fläche unverbaut“, so Inge Podbrecky vom Bundesdenkmalamt.
Keine Arbeiter-Ghettos
Den Architekten war wichtig, die Bauten über die ganze Stadt zu verteilen, sodass keine Wohn-Ghettos entstehen konnten. An manchen Stellen wurden aber sehr wohl geballt Gemeindebauten errichtet – Stichwort „Ringstraße des Proletariats“ zwischen Margareten und Meidling.
Das gigantische Bauprogramm war überhaupt erst möglich, weil durch die damals grassierende Hyperinflation der Wohnungsbau für private Investoren unrentabel wurde und Grundstücke günstig waren. „Und es gab den klaren Willen, Wohnen als öffentliche Aufgabe wahrzunehmen“, sagt Werner Schwarz, Kurator im Wien Museum. „Schon vor dem Krieg war klar, dass der private Markt nicht in der Lage ist, ausreichend qualitativen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Das ist keine reine rote Erfindung.“
An der Planung der Gemeindebauten waren rund 200 Architekten beteiligt, was eine große Vielfalt an architektonischen Stilen mit sich brachte. Der Metzleinstalerhof etwa war geprägt vom „eklektischen“ Stil Otto Wagners. Der Rabenhof und der Sandleitenhof hingegen waren eher im Geist der altmodischen Gründerzeit geplant und der Karl-Seitz-Hof war mit Art-Deco-Elementen verziert. Sogar das moderne Bauhaus zog in den Gemeindebau, konkret in den Wander-Lanzer-Hof. „Das Stadtbauamt gab nur die grundlegenden Richtlinien vor, etwa Wohnungsgrößen und –anzahl pro Stiegenpodest, sowie Belichtung, Belüftung. Die Detailgestaltung blieb den entwerfenden Architekten vorbehalten“, so Podbrecky.
Luft und Licht für die Bewohner
Für die arbeitende Bevölkerung, die zu dieser Zeit an einer unvorstellbaren Wohnungsnot litt, waren die günstigen und hochwertigen Wohnungen eine spürbare Verbesserung der Lebensumstände: Alle Wohnungen hatten Wasser, eine Toilette und Gas. Jedes Zimmer musste ein Fenster haben und pro Stockwerk und Stiege durften nicht mehr als vier Wohnungen geplant werden – die Privatsphäre sollte dadurch gewahrt bleiben. Auch Balkone waren vorgesehen. Licht und Luft waren das Motto, im Gegensatz zu den Zinshäusern der Gründerzeit.
Die Miete war außerdem leistbar: 1926 betrugen die durch-schnittlichen Kosten für eine Gemeindewohnung vier Prozent eines monatlichen Arbeiterlohns. Wenngleich die Wohnungen nicht groß im Sinne heutiger Maßstäbe waren – für eine Familie war etwa eine rund 40 Quadratmeter große Wohnung mit „Küche, Zimmer und Kammer“ vorgesehen – so bedeutete es für viele Arbeiter einen kleinen Luxus.
Komplettes Angebot für Leben und Freizeit
Dazu kamen viele soziale und gemeinschaftliche Einrichtungen, die je nach Gemeindebau unterschiedlich waren: Waschsalons, Kindergärten, Bibliotheken, Theater, Vereinslokale, ärztliche Einrichtungen wie Zahnkliniken und Tuberkulose-Vorsorgezentren. Beispiel Waschsalons: Ziel war es, dass die Frauen dank moderner Trockner die komplette Wäsche der Familie innerhalb von fünf Stunden reinigen und trocknen konnten. Davor machte die Wäsche ein bis zwei Tage Arbeit. „Der Gemeindebau lieferte ein komplettes Angebot, wie die Bewohner ihr Leben und ihre Freizeit sinnvoll gestalten können“, sagt Bauer. „Alles war freiwillig.“
Die Bauten waren oft bewusst wie Schlösser geplant: große Vorplätze, Brunnen, Büsten, mächtige Torbögen. Die Architekten legten Wert darauf, den Arbeitern etwas zu geben, worauf sie stolz sein konnten. „Das Motto lautete: Auch Arbeiter haben ein Recht auf Schönheit“, sagt Werner T. Bauer.
Freilich gab es damals auch Spott: Josef Frank etwa war der Ansicht, dass der „Volkswohnungspalast“, wie er die Gemeindebauten nannte, zwar außen wie ein Palast aussehe, dahinter aber nur kleine Wohnungen stecken würden. Später war Frank allerdings im Komitee der „Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Wohnungshygiene“, die im Karl-Marx-Hof gegründet wurde. Dort gab es eine Musterwohnung für die neuen Bewohner.
In den 1960er Jahren kamen die Plattenbauten
Der vor hundert Jahren errichtete Metzleinstalerhof gilt auch als erster Wiener „Superblock“: großvolumige Wohnbauten, die vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren ihre Hochblüte erreichten. In dieser Zeit konnten erstmals vorgefertigte Betonteile zum Bauen eingesetzt werden, was die Errichtung von unzähligen Plattenbauten zur Folge hatte. Ein Beispiel ist die Großfeldsiedlung. Sie wurde von 1966 bis 1971 von verschiedenen Architekten wie etwa Harry Glück geplant und umfasst mehr als 5.000 Wohnungen.
In dieser Zeit geriet das Soziale in den Hintergrund. Wichtig war, so viele Einheiten wie möglich zu bauen. In den 1960er-Jahren wurden im Schnitt 9.000 Wohnungen errichtet – pro Jahr.
Vielleicht kehrt der ursprüngliche Geist aber wieder zurück: Beim ersten Gemeindebau der neuen Generation, der kommenden Herbst in Favoriten eröffnet wird, sind großzügige Gemeinschaftsterrassen und Innenhöfe geplant. http://100jahreroteswien.info/
Ausstellung „Das Rote Wien“ ab 30. April im Wien Museum, www.wienmuseum.at
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