IHS-Chef Bonin: "Wir brauchen ein flexibles Pensionsalter"

Zusammenfassung
- Österreich braucht umfassende Reformen, insbesondere ein flexibles Pensionsalter abhängig von Beruf und Gesundheit.
- Strukturprobleme wie Sozialpartnerschaft, Föderalismus und Teilzeitdebatte bremsen Wachstum und führen zu sozialer Spaltung.
- Künstliche Intelligenz verändert Berufsbilder, erfordert Weiterbildung, ist aber keine Bedrohung für den Arbeitsmarkt.
Der Wirtschaftsforscher vertritt auch eine durchaus differenzierte Position in der momentanen Teilzeitdebatte.
KURIER: Viele Beobachter empfinden einen lähmenden Stillstand im Land. In Österreich gibt es alle 20 Jahre eine größere Reform, ansonst wird nur an kleinen Schräubchen gedreht, wie auch aktuell. Ist das die Angst der Politik vor dem Wähler?
Bonin: Damit es größere Reformen gibt, muss der Reformdruck groß genug sein. Jetzt haben wir diesen besonderen Druck, weil die demografische Alterung zuschlägt und wir eine Budgetkrise haben. Es wäre jetzt also die Zeit für große Reformen von der Gesundheit über die Bildung bis zu den Pensionen – unabhängig von der Weltlage. Die kommt aber noch oben drauf und macht den Handlungsdruck noch größer. Jetzt wird es spannend zu sehen, was der Regierung im Verlauf der Legislaturperiode noch gelingt.
Österreich hat sich früher immer mit den Besten verglichen, heute gilt das Mittelmaß als Maßstab, aber selbst den EU-Durchschnitt schaffen wir nicht mehr. Die Inflation ist wesentlich höher, das Wachstum viel geringer. Was ist los mit Österreich?
Wir erleben einen schleichenden Abstieg. Zum Teil, weil wir in etlichen Bereichen von der Spitze kommen und nun andere Länder aufholen. Aber es gibt auch lange bekannte Strukturprobleme, an denen niemand rütteln will, Tabuthemen, über die man nicht gerne redet. Das ist los mit diesem Land.
Woran denken Sie?
Etwa die Sozialpartnerschaft. Gewiss eine tolle Errungenschaft, aber die Welt hat sich verändert, vielleicht müsste sie noch flexibler werden. Oder das Pensionsalter, wo man mit notwendigen Reformen sehr spät dran ist. Andere Länder in Europa haben vorgezeigt, dass man das Pensionsalter sehr wohl an die steigende Lebenserwartung koppeln kann, ohne dass der Arbeitsmarkt für Ältere kippt. Ein drittes Tabuthema ist der Föderalismus, da bleiben viele dicke Bretter zu bohren.
IHS-Experte Helmut Hofer hat schon vor 10 Jahren ein Offensivprogramm für den Standort gefordert: Lohnnebenkosten runter, mehr Frühkindförderung, mehr Grundlagenforschung, mehr Flexibilität etwa im öffentlichen Sektor. Da ist bis heute gefühlt gar nichts passiert.
Ja, bei bestimmten Debatten hier denke ich manchmal „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Und ich fühl mich oft an Deutschland vor 20 Jahren erinnert, wo man Dinge zwar hart umkämpft, aber doch umgesetzt hat. Konkret etwa den starken Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Oder anzuerkennen, dass wir länger arbeiten müssen, wenn wir immer älter werden. In Deutschland hat man, obwohl das unpopulär ist, schon lange die Weichen in Richtung auf die Regelaltersgrenze 67 Jahre gestellt. Wenn Österreich wieder an die europäische Spitze will, wird man nicht darum herum kommen, auch mal jemandem auf die Füße zu steigen. Bei großen Reformen muss man oft zu Beginn Belastungen hinnehmen, damit es langfristig besser wird. Dieses Tal der Tränen ist natürlich für jeden Politiker schwierig, weil man im Zweifel abgewählt wird, wie es in Deutschland Gerhard Schröder passiert ist.
Halten Sie staatliche Preiseingriffe bei Lebensmitteln für sinnvoll?
Nein. Die Erfahrung zeigt, Preiseingriffe haben selten funktioniert, entweder sie führen zu Verknappungen im Angebot oder zu Verschlechterungen bei den Produktqualitäten. Auch wird gerne übersehen: Die Inflation heuer ist vor allem deshalb so hoch, weil zu Jahresbeginn Energiepreisbremsen weggefallen sind. 2026 fällt dieser Basiseffekt weg, dann nähern wir uns wieder der angestrebten Zwei-Prozent-Marke.
Also lieber gar nichts tun gegen die hohen Preise?
Das habe ich nicht gesagt. Zum Beispiel sollte es in einem EU-Binnenmarkt keine territorialen Lieferbeschränkungen geben, was für österreichische Händler zu höheren Einkaufspreisen führt. Verteuernd wirkt aber auch, dass in Österreich auf 10.000 Einwohner 60 Supermarktfilialen kommen, in Deutschland 40. Dieser Luxus kostet, genauso wie die Versorgung bis ins letzte Alpental mit den gleichen Preisen. Das ist wie bei den Klagen über die hohen Energiepreise. Die Österreicher sind nicht sehr wechselwillig, was die Stromanbieter anbelangt. Genauso ist es vielen offenbar lieber, dass sie den nächsten Supermarkt um die Ecke haben, als weiter zum Einkaufen fahren zu müssen. Diese Bequemlichkeit bringt durchaus Lebensqualität. Da gegenzusteuern, ist nicht Aufgabe der Politik. Wohl aber, den von der Inflation besonders betroffenen Bedürftigen unter die Arme zu greifen.
Es braucht jetzt jedes Jahr ein Sparpaket, um vom hohen Budgetdefizit auch wieder runter zu kommen. Sind Sie in diesem Kontext für eine Vermögens- und Erbschaftssteuer?
Viel besser als jedes Jahr ein Sparpaket zu schnüren, wäre es einen mittelfristigen Reformplan vorzulegen, bei dem man kritisch auf die Aufgabenseite schaut. Also nicht nur kurz auf die Bremse steigen, sondern einen klaren Plan für eine Reformagenda für die nächsten zehn Jahre entwickeln. Konsumenten und Investitoren brauchen Sicherheit, wie Österreich in 2035 aussehen soll.
Und die Vermögens- bzw. Erbschaftssteuer?
Österreich hat primär ein Ausgabenproblem, aber auch die Steuer- und Abgabenquote sollte nicht höher werden. Ich bin jedoch für eine Steuerstrukturreform: die Belastung auf Einkommen aus Arbeit senken, und das durch moderate Steuern auf Vermögen gegenfinanzieren. Dafür eignet sich am besten eine höhere Besteuerung von Grund und Boden, denkbar ist auch eine moderate Erbschaftssteuer mit wenigen Ausnahmetatbeständen. Mit den so erzielten Steuermehreinnahmen darf man nicht einfach Budgetlöcher stopfen. Wenn man mit dem Geld hart arbeitende Menschen gezielt entlastet und in Bildung investiert, könnte man die soziale Ungleichheit verringern.
Sind Menschen, die „nur“ Teilzeit arbeiten, wirklich ein Risiko für den Wohlstand?
Die starke Zunahme der Teilzeit reduziert das Wachstumspotenzial, gerade jetzt, wo die Erwerbsbevölkerung kleiner wird und vielen Betrieben Arbeitskräfte fehlen. Teilzeit ist aber auch ein Wohlstandsphänomen. In der Erbengeneration gibt es viele Menschen, die sich Teilzeit eben leisten können. Dabei wird gerne übersehen, dass es auch viele Menschen gibt, die sie sich selbst mit einem Vollzeitjob gerade so über Wasser halten können. Da droht eine soziale Spaltung, die auch ein Wohlstandsrisiko ist.
Sind sie für ein Recht auf Vollzeit?
Besser wäre es, an den zentralen Stellschrauben zu drehen. Das heißt, die Kindertagesbetreuung bedarfsgercht auszubauen und die in Österreich starke Steuerprogression zwischen 20.000 und 40.000 Euro Jahresgehalt zu verringern. Im Übrigen sollten Betriebe, die händeringend Beschäftigte suchen, von sich aus einen Umstieg von Teilzeit auf Vollzeit anbieten. In vielen Fällen ist das Problem auch weniger die reine Wochenarbeitszeit, sondern mangelde Flexibilität, wann und wo man arbeitet. Wenn wir die von vielen gewünschte Work-Life-Balance verbessern wollen, müssen Arbeitgeber, Sozialpartner und Politik noch mehr über flexibles Arbeiten nachdenken.
Führt irgendein Weg am Arbeiten bis 70 vorbei?
Ich würde da kein bestimmtes Alter vorgeben. Stattdessen brauchen wir eine langfristig verlässliche Regel, wie bei steigender Lebenserwartung das Regelpensionsalter angepasst werden soll. Und wir müssen überlegen, wie wir das starre Antrittsalter für alle aufbrechen.
Wie soll das gehen?
In Deutschland gibt es die Debatte, ob nicht Beamte länger arbeiten sollten, weil sie länger leben. Im Kern steht dahinter: das Pensionssystem verteilt tendenziell von unten nach oben um, wenn alle unabhängig von ihrer beruflichen Belastung gleich lang arbeiten müssen. Der Pflegekraft, die mit 60 ausgebrannt ist, können sie nicht einfach sagen, sie soll bis 70 weiterarbeiten. Wir brauchen also ein flexibles Pensionsalter, auch wenn das nicht leicht umzusetzen ist.
Die Schwerarbeiterregelung haben vor allem die Beamten genutzt und nicht die wirklichen Schwerarbeiter …
Wie gesagt, die Umsetzung ist nicht einfach. Am Beruf anzuknüpfen ist schwierig, besser wohl am Gesundheitszustand des Einzelnen.
Ist die KI eine Massenvernichtungswaffe für Jobs?
Nein, die manchmal beschworene Apokalypse sehe ich nicht. Die Arbeit geht uns nicht aus. Es handelt sich aber um eine Form des Strukturwandels, der viele Berufsbilder deutlich verändert. Daraus ergibt sich ein großer Bedarf an Weiterbildung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen die KI produktiv anwenden können. KI kann etwa Pflegekräfte bei der Dokumentationsarbeit unterstützen, damit sie sich mehr um die Pflege kümmern können, für die ein Pflegeroboter noch lange Zeit ein schlechter Ersatz sein wird.
Zum Abschluss: Sie sind aus Deutschland kommend, seit zwei Jahren in Wien Direktor des Instituts für Höhere Studien. Was gefällt Ihnen an Wien, an Österreich, was gefällt Ihnen weniger?
Mir gefällt, dass klassische Musik, Oper und Theater noch viel präsenter sind. Was mir als Norddeutschem zum schaffen macht, ist der doch sehr heiße Sommer.
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