"Muskelkraft war das, was zählte"

"Muskelkraft war das, was zählte"
Der gebürtige Türke Musa Firat kam vor 50 Jahren mit dem ersten Gastarbeiter-Zug nach Wien.

Die Berge Ostanatoliens vermisst er bis heute. Dort wurde Musa Firat 1933 im Bergbauerndorf Mezra Káyćí geboren, dort wuchs er in bitterer Armut auf. Schule gab es keine, auch Ärzte nicht. Nachdem seine ersten beiden Kinder mangels ärztlicher Versorgung gestorben waren, hatte er genug von Armut und Aussichtslosigkeit.

Musa Firat zog mit seiner Frau nach Istanbul, schlug sich mit einfachen Arbeiten durch, bis er von den Anwerbestellen für Gastarbeit in Österreich erfuhr. "Ich bin sofort hingegangen. Dort untersuchten mich ein türkischer und ein österreichischer Arzt. Muskelkraft war das, was zählte. Und gesunde Zähne", erinnert sich Musa Firat.

"Haben uns mit Blumenkörben empfangen"

Im April 1964 stieg er zusammen mit 25 weiteren türkischen Gastarbeitern in Istanbul in den Zug nach Wien. "Die Ankunft am Südbahnhof war schön. Mitarbeiter der Firma Rieserbau haben uns mit Blumenkörben empfangen", erzählt er. "Gleich am nächsten Tag begannen wir zu arbeiten. Die meisten von uns am Bau."

Körperlich hat er viel geleistet in den Jahren als Gastarbeiter in Österreich. Musa Firat arbeitete beim Wiener U-Bahn-Bau mit, errichtete Häuser und Stützmauern an Autobahnen. Ende der 1970er-Jahre übersiedelte er nach St.Pölten. "Mit Krampen und Schaufel haben wir geschuftet und beim Bau des Krankenhauses mitgeholfen", sagt er. Überall, wo sie gebraucht worden seien, hätten sie gearbeitet – ob als Maurer oder Hilfsarbeiter.

Erst nach Jahren holte Musa Firat seine Frau nach Österreich. Ihre drei Kinder wurden hier geboren, sind österreichische Staatsbürger. Österreich und insbesondere St.Pölten/St.Georgen, wo Musa Firat wohnt, sei über die Jahre seine zweite Heimat geworden. Deutsch hat der heute 81-Jährige schon recht bald nach seiner Ankunft in Wien gelernt. "Am Anfang konnte ich beim Einkaufen nur mit dem Finger auf die Sachen zeigen. Daher bin ich schon nach drei Wochen zum Chef gegangen und habe ihm erklärt, dass ich Deutsch lernen will."

Der Chef schickte ihn an die Uni Wien, wo Musa Firat erstmals unter Studenten saß. "Ich als Bergbauer aus Ostanatolien unter Studenten. Da habe ich mich geschämt", erinnert er sich. Aber es habe so viele Menschen gegeben, die ihm in dieser Situation geholfen hätten. "Das hat mich zu Tränen gerührt", sagt Musa Firat. "Baumeister Nowak, Herr Otto Frank – schreiben Sie diese Namen", betont Firat. Sie hätten sich für ihn eingesetzt, ihm beim Deutschlernen geholfen, mit ihm Aufgaben geschrieben.

Die Herzlichkeit, die er damals erlebt habe, gebe es heute Ausländern gegenüber nicht mehr. Es sei kälter geworden zwischen den Menschen, sagt Musa Firat. "Türken, geht nach Hause". höre er immer wieder. Trotzdem geht Musa Firat wie immer in sein Gasthaus und trinkt gemeinsam mit Österreichern Bier.

Zurück nach Ostanatolien will der Rentner heute nicht mehr. Aber die Berge seiner Heimat bleiben in seinem Herzen.

In Österreich herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg ein Arbeitskräftemangel. Diesen sollten "Gastarbeiter" aus dem Ausland ausgleichen. Am 15. Mai 1964 wurde das Anwerbeabkommen zwischen Österreich und der Türkei unterzeichnet. Es regelt die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte und deren Beschäftigung in Österreich und trat am 23. Juli 1964 in Kraft.

Dass dieser rein nüchterne und pragmatische Beschluss in den kommenden Jahrzehnten durchaus weitreichende soziale und politische Auswirkungen auf die Gesellschaft haben sollte, wurde wenig bedacht. Der türkische Staat unterstützte diese Arbeitskräftewanderung nach Angaben der "Medienservicestelle Neue Österreicher/innen" in Wien aufgrund der hohen Arbeitslosenquote in der Türkei. Offiziell gelangten Gastarbeiter und Gastarbeiter über Anwerbekommissionen nach Österreich, mit der Zeit wurden auch Mundpropaganda und die Vermittlung von Arbeitskräften durch schon ausgewanderte Migranten im Auftrag von Firmen gängige Anwerbemethoden.

Grundstein: Raab-Olah-Abkommen

Den Grundstein für den Zuzug von Gastarbeitern nach Österreich bildet das Raab-Olah-Abkommen, das 1961 von der Bundeswirtschaftskammer und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) ins Leben gerufen wurde. Benannt ist das Abkommen nach dem früheren Bundeskanzler und damaligen Kammerpräsidenten Julius Raab (ÖVP) und dem Präsidenten des Gewerkschaftsbundes, Franz Olah (SPÖ). Ziel war es, die Zulassung von ausländischen Arbeitskräften am Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Aufbauend auf dem Raab-Olah-Abkommen wurden in den 1960er Jahren zwischenstaatliche Verträge geschlossen, um die Anwerbung von Gastarbeitern zu institutionalisieren und kontrollierbarer zu machen. Dem ersten - erfolglosen - Anwerbeabkommen mit Spanien im Jahr 1962 folgen die Abkommen mit der Türkei 1964 und Jugoslawien 1966.

Der Begriff "Gastarbeiter"

Mit der Idee, ausländische Arbeitskräfte für einen gewissen Zeitraum anzuwerben, wurde der Begriff "Gastarbeiter" geprägt. Das Wort sollte klarstellen, dass sich die angeworbenen Arbeitskräfte aus der Türkei und anderen Staaten nur vorübergehend in Österreich aufhalten, wie aus den Unterlagen der "Medienservicestelle" hervorgeht. Der Begriff löste die stark negativ konnotierte Bezeichnung Fremdarbeiter ab, wie Zwangsarbeiter während des Nazi-Regimes genannt worden waren. Gegen Ende der 1960er Jahre setzte sich der Begriff Gastarbeiter durch und verdrängte jenen des Fremdarbeiters.

Grund für die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei 1964 war der wirtschaftliche Aufschwung Mitte der 1950er Jahre in Westeuropa, wodurch die Nachfrage an Arbeitskräften stieg. Zudem wanderten viele Österreicher wegen eines höheren Lohnniveaus ins Ausland ab und der Einsatz der ländlichen Bevölkerung in den Industriezweigen stagnierte. Um dem Arbeitskräftemangel in Zeiten der Hochkonjunktur entgegenzuwirken, wurden Arbeitskräfte aus anderen Ländern angeworben.

Arbeiter aus "wohlhabenden" Provinzen

Der türkische Staat seinerseits unterstützte diese Arbeitskräftewanderung wegen eines rapiden Bevölkerungswachstums (2,7 Prozent im Jahr 1965) und einer hohen Arbeitslosenquote. Die türkischen Gastarbeiter in Österreich stammten vor allem aus den "wohlhabenden" Provinzen im Westen und Norden der Türkei. Hierzu gehören auch die drei größten Städte des Landes - Ankara, Izmir und Istanbul. Nur ein Prozent stammte hingegen aus den unterentwickelten Provinzen im Südosten der Türkei.

Rotationsprinzip scheiterte

Die Anwerbung von Gastarbeitern basierte auf dem "Rotationsprinzip" temporärer Arbeitskräfte. Die Gastarbeiter - zunächst meist Männer ohne ihre Familien - sollten möglichst bald in ihre Heimatländer zurückkehren und bei Bedarf durch neue ausländische Arbeitskräfte ersetzt werden. Das Rotationsprinzip scheiterte jedoch: Einerseits holten Gastarbeiter ihre Familien nach und kehrten daher im Winter nicht mehr zurück. Andererseits waren viele Firmen nicht bereit, jedes Jahr neue Arbeitskräfte einzuschulen, weshalb dauerhafte Arbeitsverträge geschlossen wurden.

Zwischen 1961 und 1974 wanderten etwa 265.000 Menschen nach Österreich ein. Der Großteil der Gastarbeiter stammte aus dem ehemaligen Jugoslawien, ein geringer Teil aus der Türkei: 1973 waren 78,5 Prozent der Gastarbeiter jugoslawische Staatsbürger und 11,8 Prozent Türken. 1973 erreichte die Zuwanderung mit rund 230.000 beschäftigten Gastarbeitern und einem Anteil von 8,7 Prozent an den Beschäftigten ihren vorläufigen Höhepunkt.

Anwerbestopp

Im Zuge der Erdölkrise und der darauf folgenden Rezession kam es zum Anwerbestopp. In den Rezessionsjahren 1974/75 wurden österreichweit rund 70.000 Arbeitsverträge nicht mehr verlängert. Kurzfristig kam es zu einem Rückgang der Zahl an Gastarbeitern. Langfristig stieg diese jedoch konstant, da bereits niedergelassene Gastarbeiter immer häufiger ihre Familien nachholten. Heute leben 186.334 Personen türkischer Herkunft hierzulande. Damit stellen sie nach den Deutschen und Serben die drittgrößte Migrantengruppe in Österreich.

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