Frust der Menschen wird zum Wirtschafts-Risiko

Bürger können Statistiken und Prognosen der Ökonomen immer weniger nachvollziehen.

Europas Wirtschaft wächst, die Unternehmen investieren, Löhne und Gehälter steigen – und trotzdem nimmt die Unzufriedenheit vieler Menschen in den EU-Ländern zu. „Die Gelbwesten in Frankreich, die Brexit-Unterstützer in Großbritannien und die politische Lage in Italien sollten eine Lehre für uns sein. Das sind enorme politische Risiken, die wir Ökonomen in die Prognosen einbeziehen müssen“, sagt Julien Marcilly.

Er ist Chefökonom des internationalen Kreditversicherers Coface. Von seinen Einschätzungen der wirtschaftlichen Entwicklung hängt viel ab im Konzern, der Versicherungsprämien für Exporteure in die verschiedenen Länder berechnen muss. „Ökonomen lagen in der Vergangenheit oft falsch, weil sie nur auf volkswirtschaftliche Indikatoren schauten“, meint er. Was die Bevölkerung dachte oder fühlte, sei nicht ausschlaggebend gewesen.

Unterschiedliche Einschätzungen

Befragungen der Bürger hätten aber gezeigt, dass ihre Einschätzung von der Wirtschaft ihres Landes weit weg von den ökonomischen Indikatoren liege. So ist zum Beispiel Großbritannien, gemessen an der Wirtschaftsleistung, das fünftstärkste Land der Welt. Die Menschen aber seien der Meinung, es liege auf Platz zwölf. Oder Frankreich: Das Land rangiert auf Platz sieben bei der Wirtschaftsleistung, die Menschen sehen es auf Platz 20.

Noch viel ausgeprägter ist die Diskrepanz bei der Arbeitslosigkeit. Während die Ökonomen in der EU eine positive Entwicklung mit sinkender Arbeitslosigkeit sehen, glauben viele Menschen dies nicht. Neun Prozent betrage die Arbeitslosigkeit in Frankreich etwa. Befrage man die Bevölkerung dazu, kommt man auf eine Einschätzung von mehr als 20 Prozent Arbeitslosigkeit.

Was stimmt?

Marcilly räumt ein, dass die Statistik die Realität wahrscheinlich nicht vollständig erfasse. „Viele Menschen ohne Arbeit werden gar nicht gezählt. Sie sind so frustriert, dass sie gar keinen Job mehr suchen.“ Rechne man all diese Personen ein, die keine Arbeit haben, aber nicht aktiv suchen, komme man in Frankreich tatsächlich in Richtung 20 Prozent Arbeitslose. „Da darf die Frustration dann nicht verwundern“, gibt er zu bedenken. Er hält die politischen Risiken, die von den Unzufriedenen in Europa ausgehen, derzeit für sehr groß.

„Es gibt eine Fragmentierung der Gesellschaft, die sich nicht nur innerhalb der Länder sondern auch zwischen den Staaten zeigt“, sagt Marcilly. So halten etwa die Menschen in 18 EU-Mitgliedstaaten gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit für das Wichtigste, in den anderen, reicheren EU-Ländern liege dagegen Sicherheit und Soziales an erster Stelle. „Da sind Kompromisse schwierig“, sagt der Ökonom.

Von zunehmender Frustration seien auch mittel- und osteuropäische Länder nicht ausgenommen, so Grzegorz Sielewicz, Coface-Ökonom für die Region Österreich und Osteuropa. Das habe sich etwa bei der geplanten Einführung einer Internetsteuer in Ungarn gezeigt, die massive Proteste ausgelöst habe.

Arbeitskräfte fehlen

Das größte Risiko für Osteuropa aber sei der Mangel an Arbeitskräften. Größere Unternehmen könnten mit massiven Lohnerhöhungen Mitarbeiter halten oder finden, kleine Firmen drohen daran zu scheitern. „Coface erwartet, dass die Insolvenzrate in Osteuropa aus diesem Grund heuer um 6,4 Prozent steigen wird“, sagt Sielewicz. Vor allem in Polen, Tschechien und Ungarn sei die Lage prekär. Das sollten auch Österreichs Lieferanten beachten.

Die Autorin war auf Einladung von Coface in Paris.

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