Die Mütter von Tiananmen

Die Mütter von Tiananmen
Schwerpunkt: China (Teil 5) Ding Zilin hat bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung ihren Sohn verloren.

Ding Zilin empfängt gerne Besuch. Oft ist das nicht der Fall. Ihr Telefon wird abgehört, ihre Mails werden überwacht - so wie sie. "Sicherheitsleute kommen vor meine Türe, wann sie wollen", erzählt die frühere Philosophie-Dozentin. Eine gepflegte, zarte Dame mit grauem Haar, 75 Jahre alt und so gar nicht das, was man sich unter einem Staatsfeind vorstellen mag. Dünne Haut über den schmerzenden Knochen, feine, traurige Stimme, die zum Ausdruck bringt, was die Kader in Rage bringen kann: "Wir verlangen die Wahrheit. Wollen, dass die Verantwortlichen für das, was im Juni 1989 geschehen ist, ihre gerechte Bestrafung bekommen", wiederholt Ding Zilin ihr Credo.

Wir - das sind die Mütter von Tiananmen, eine Gruppe von 150 Familien, die Angehörige im Zuge der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung vor 22 Jahren verloren haben. Die alte Dame ist ihr Sprachrohr und zutiefst selber betroffen. Am 3. Juni gegen 23.00 Uhr starb ihr Sohn Jiang Jielan durch eine Kugel ins Herz.

Er war einer der Ersten von bis zu 3000, die dem Regime zum Opfer fielen. Einen Tag zuvor war der Mittelschüler erst 17 Jahre alt geworden. Sein Tod hat das Leben der Mutter, ein Ex-Parteimitglied und auf der Karriereleiter damals weit oben, komplett auf den Kopf gestellt. Zwei Jahre habe sie geschwiegen, erzählt sie. Wollte selber nicht mehr weiterleben.
Dann kam die Wende: "Wenn ich am Leben bleibe, dann muss es Sinn haben", hat sie damals zu sich selbst gesagt. "Ich muss dann etwas tun, für ihn und für andere, die auch ihre Söhne und Töchter verloren haben." 1991 hat Zilin ihr Schweigen gebrochen, offen über den Sohn erzählt und sich für die Rehabilitierung der Opfer stark gemacht. Sie verfasst Petitionen, die das von Tiananmen-Müttern empfundene Unrecht den chinesischen Behörden klar machen sollen. Oder sie schreibt Briefe, die internationale Menschenrechtsorganisationen verbreiten.

Mahnmal

Den Job an der Uni waren Ding Zilin und ihr Ehemann, der sie in ihrem Engagement unterstützt, bald los. Zilin wurde bedroht und zeitweise inhaftiert. In den chinesischen Medien ist für ihr Anliegen kein Platz. "Ich bin keine starke und mutige Frau", meint sie. Zilin ist vor allem Mutter. Im Wohnzimmer hängt ein Foto, das ihren Jungen bei einer Demonstration zeigt. Daneben steht seine Urne - die Asche des Kindes als Mahnmal, Blumen daneben.

Dass der Sohn an jenem Abend durchs Fenster aus dem Haus geschlüpft und zu den Studenten geradelt ist, hat ihr damals nicht gepasst. Doch jetzt sei sie stolz, dass er den Mut dazu hatte. Und dass er "für Demokratie und Freiheit" gestorben ist. Viele, die damals dabei waren, schweigen. Andere wiederum hätten ihre Meinung geändert, weiß Zilin. Nur wenige begehren heute politisch auf. Die Stimmung ist dennoch gespannt - besonders seit dem Ausbruch der Aufstände gegen die Despoten im arabischen Raum. In China müssen Kritiker seither mit harschen Kontrollen rechnen. Etliche Blogger, Bürgeranwälte und Dissidenten wurden schon weggesperrt. "Es ist schlimmer geworden", sagt Zilin.

Tiananmen: Trauma - Tabu

Am 3. und 4. Juni 1989 endeten in Peking Proteste der chinesischen Demokratiebewegung gegen das kommunistische Regime mit einem Blutbad. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens hatten Diktatur-Gegner im Vorfeld wochenlang gegen Korruption, Vetternwirtschaft und für freie Wahlen und Pressefreiheit demonstriert. Nach einem Verbot der Proteste kam es zur gewalttätigen Niederschlagung des Aufstands durch das Militär, zum Tiananmen-Massaker.

Auf dem Platz selbst wurde niemand getötet - in anderen Teilen der Stadt kamen mehrere Hundert Menschen ums Leben. Die genau Zahl ist unklar. Menschenrechtsorganisationen sprechen von bis zu 3000 Toten. Offiziell wird der Einsatz als Niederschlagung konterrevolutionärer Unruhen bezeichnet; jegliche kritische Auseinandersetzung sowie eine Untersuchung der Geschehnisse wird unterbunden.

Kommentare