Ari Rath: "Ich frage mich, wo der ‚Chef‘ bleibt"

Publizistenlegende Ari Rath (90) mit seinem jungen Filmdarsteller León Orlandianyi am Set von „Wir sind am Leben“
Die Geschichte von Ari Rath und anderen jüdischen Flüchtlingskindern wird fürs TV nacherzählt. Der 90-Jährige über seine Flucht aus Wien im Jahr 1938 und über die gegenwärtige Flüchtlingspolitik.

Wie heißt du?"
"Ich heiße León."
"Dann heißt du genauso wie ich, denn ich heiße Ari. Ari heißt auch Löwe – auf Hebräisch".

Zu diesem berührenden Dialog zwischen León Orlandianyi, dem 13-jährigen Darsteller eines jüdischen Flüchtlingskindes, und dem 90-jährigen Historiker und Publizisten Ari Rath, der als Kind vor den Nazis fliehen musste, kam es beim gestern beendeten Dreh für den TV-Film "Wir sind am Leben" von Nikolaus Leytner im slowenischen Ljubljana. Die ORF/ARD-Produktion soll 2016 ausgestrahlt werden.

Agnes Pluch hat in ihrem Drehbuch die wahren Geschichten von jüdischen Kindern, die von einer Hilfsorganisation vor den Nazis in Sicherheit gebracht werden sollten, zu einem packenden Mosaik unterschiedlicher Schicksale verwoben. In Leytners Verfilmung sind Georg (August Zirner), Josko (Ludwig Trepte) und Helga (Nina Proll), verantwortlich für diesen Kindertransport nach Palästina. Nach einer abenteuerlichen Flucht über die Grenze südlich von Graz, werden sie in Zagreb von der deutschen Wehrmacht eingeholt. In der leer stehenden "Villa Emma" in der italienischen Po-Ebene finden die Flüchtlinge Unterschlupf, doch auch diese Region wird von der Wehrmacht besetzt. Die Dorfbewohner verstecken die Kinder vor den Nazis, ob sie Palästina je erreichen, bleibt offen.

Ari Rath: "Ich frage mich, wo der ‚Chef‘ bleibt"
Honorarfrei
Die Unklarheit über das Schicksal des Buben, den er spielt, belastet León. "Ich möchte wissen, ob er noch lebt und was aus ihm geworden ist", klagt er dem Set-Gast Ari Rath, der dem Jungschauspieler als Zeitzeuge Rede und Antwort steht. "Du spielst mich", beruhigt ihn dieser, "und was aus mir geworden ist, das kannst du in meinerBiografie "Ari heißt Löwe" (im Zsolnay Verlag, Anm.)nachlesen. Ich schenke es dir, wenn wir wieder in Wien sind."

Ari Rath floh als 13-Jähriger nach Palästina. Sein Vater wurde in ein KZ deportiert, die Mutter war bereits verstorben. Rath wurde Herausgeber der Jerusalem Post, einem liberalen, auch international geachteten Blatt.

"Wie in Traiskirchen!"

Als Ari, der alte Löwe, den jungen Löwen zum Film-Set begleitet, entfährt es ihm: "Da schaut es ja aus wie in Traiskirchen!"

Nach den Schilderungen von Zeitzeugen hat Nikolaus Leytner für seinen Film „Wir sind am Leben“ in einem leerstehenden Gebäude in Ljubljana eines der Flüchtlingslager der jüdischen Kinder rekonstruiert. Ari Rath bestätigt die Authentizität des Schauplatzes, der ihn dazu anregt, sich im Interview über die heutige Politik seine Gedanken zu machen.

KURIER: Mit welchen Gedanken und Gefühlen verfolgen Sie die Dreharbeiten hier, die ja auch einen Teil Ihrer eigenen Geschichte erzählen?

Ari Rath: Ich fühlte mich sofort 78 Jahre zurückversetzt. All die Gefühle von damals sind wieder hochgekommen, als mein Bruder und ich alles zurück lassen mussten um in ein fernes Land auszuwandern, in das ich zunächst gar nicht hinwollte. Vor dem „Anschluss“ wollten mein Bruder und ich nichts von Palästina und auch nichts vom Zionismus hören. Wir waren verwöhnte Wiener Buben und mein größtes Interesse war damals, in welchen jugendverbotenen Film ich mich hineinschmuggeln könnte. Aber schon am ersten Samstag nach dem Anschluss haben wir gesehen, dass die gesamte Wiener Polizei bereits die Hakenkreuz-Armbinden getragen hat. Da wussten wir, es ist zu Ende, nichts wie weg! Ich war damals 13 Jahre und zwei Monate alt und mein Bruder war 17. Unser Instinkt sagte uns, dass wir nach Palästina flüchten sollten – in ein Land aus dem man uns nicht mehr vertreiben kann.

Wie schwer war es damals aus Österreich wegzukommen?

Es war ja eine der ersten Aufgaben von Adolf Eichmann, so viele Juden wie möglich aus Österreich zu vertreiben. Wenn man bereit war, sein ganzes Hab und Gut zurückzulassen war das damals die einzige Möglichkeit, einen Pass für die Ausreise zu bekommen. Mit einem roten „J“ für „Jude“. Und das war – nicht zu vergessen – keine Forderung der Gestapo, sondern eine Forderung der lieben Schweizer. Die sagten: „Wir sind neutral und ihr Deutschen könnt kommen, aber eure jüdischen Emigranten wollen wir nicht haben. Und so sind wir mit diesem großen „J“ nach Palästina gereist.

Was denken Sie, wenn Sie heute in den Nachrichten Tag für Tag mit neuen Flüchtlingstragödien konfrontiert sind?

Ich bin sehr bestürzt! Vor allem wenn ich in Wien mit Menschen über die kommende Wahl spreche, weil sie sagen, dass der Herr Strache den (Bürgermeister) Häupl viele Stimmen kosten wird, weil sich alle über die Aufnahme der Flüchtlinge aufregen. Das finde ich wirklich fürchterlich!

Welche Versäumnisse werfen Sie den österreichischen Politikern vor?

Bei euch gibt es ja den schönen Ausdruck, dass man etwas zur „Chefsache“ machen muss. Ich frage mich aber, wo der „Chef“ bleibt, der verordnet, dass freistehende Kasernen und Gebäude, die nicht mehr in Betrieb sind – wie ehemalige Schulen und Krankenhäuser – für Flüchtlingsquartiere zur Verfügung gestellt werden. Man hätte schon längst bundesländerüberschreitende Maßnahmen ergreifen müssen. Man kann den wohlhabenden Norden des Globus nicht immer und ewig vor dem verarmten Süden des Planeten Erde hermetisch verschließen. Das funktioniert auf Dauer nicht.

Sie leben abwechselnd in Wien und Jerusalem – wie sehen sie die israelische Politik im Vergleich zur österreichischen?

Da man muss auch an die Geschichte denken. Israel ist letztlich von Flüchtlingen aufgebaut worden. Man könnte also viel Verständnis und Toleranz erwarten. Aber mittlerweile machen sie dort auch viele Dinge falsch und ich das auch sehr kritisch. Israel und Österreich sind heute wohlhabende Staaten, aber dort wie da geht man nicht gerecht mit den Flüchtlingen um.

Resignieren Sie manchmal, wenn Sie sehen, wie wenig die Menschen aus der Vergangenheit gelernt haben?

Ich denke vor allem daran, dass es bald Wahlen in Oberösterreich und in Wien geben wird, aus denen nach allen Umfragen angeblich der Strache ziemlich gestärkt hervorgeht. Wenn das wirklich so kommt, kann ich nur sagen: Zwischen dem Strache in Wien und dem Netanjahu in Israel muss ich wahrscheinlich nach Hawaii auswandern.

Und kommt doch auch ein wenig Hoffnung auf, wenn bei den Dreharbeiten zu „Wir sind am Leben“ so viele junge Schauspieler und Schauspielerinnen auf Sie zukommen und Ihre Geschichte erfahren wollen?

Es ist sehr berührend und ich sage ihnen das, was in den Publikumsgesprächen nach den Aufführungen von „Die letzten Zeugen“ (siehe unten, Anm.) immer gesagt: ich bin die Ausnahme, denn ich habe es geschafft, rechtzeitig wegzukommen. Die anderen, die mit mir auf der Bühne standen, haben im KZ die Hölle überlebt. Wenn ich daran denke, habe ich immer noch ein gewisses Schuldgefühl. Aber es gibt mir auch die Verpflichtung, mich so lange mit jungen Menschen zu treffen und immer weiterzumachen solange ich kann.

Zur Person: Ari Rath

Der 1925 in Wien geborene Ari Rath musste kurz nach dem Einmarsch Hitlers aus Österreich fliehen. Sein Vater wurde in ein KZ deportiert, die Mutter war bereits verstorben. In Palästina lebte und arbeitete Rath einige Zeit in einem Kibbuz. Als Journalist und später auch als Herausgeber der Jerusalem Post schuf er mit "seiner" Zeitung ein liberales Blatt, das auch international gelesen und geachtet wurde und in dem er sich immer wieder für eine Versöhnung im Nahen Osten engagierte. Genauso engagiert trat Rath auch für einen konstruktiven Dialog zwischen Israel und Österreich bzw. Deutschland ein. Ari Rath lebt heute abwechselnd in Wien und Jerusalem. Auch als 90-Jähriger ist er unermüdlich unterwegs, um die Erinnerung an die Vergangenheit wach zu halten und für mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit in der Gegenwart zu kämpfen. In dieser Mission will Ari Rath Ende September nach Buenos Aires reisen, wo in seiner Gegenwart eine Aufzeichnung der spektakulären Burgtheater-Aufführung von „Die letzten Zeugen“ gezeigt werden soll, in der von Texte von Holocaust-Überlebenden von Schauspielern gelesen werden.

Der Film
Die Dreharbeiten zum Historien-Drama „Wir sind am Leben“ (eine Koproduktion zwischen ORF, ARD und der Graf-Film sind am 20. August zu Ende gegangen. Unter der Regie von Nikolaus Leytner standen unter anderem Nina Proll, Sophie Stockinger, August Zirner, Ludwig Trepte, Laurence Rupp und León Orlandianyi vor der Kamera. Die Ausstrahlung ist für 2016 vorgesehen.

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