Eine Frage der Zivilcourage: Cyber Heroes sind gefragt
Nicht immer ist es auf den ersten Blick erkennbar. Und dennoch kann es zutiefst verletzend sein. Hate Speech äußert sich im digitalen Raum auf vielfältige, oft subtile Art und Weise. Und besonders häufig sind Jugendliche davon betroffen. Aus diesem Grund bat Moderator Markus Hengstschläger Ulrike Zartler, Familiensoziologin an der Universität Wien, und die Ö3-Moderatorin Tina Ritschl als Gäste in den Wissenschaftstalk „Spontan gefragt“.
Zunächst wollte Markus Hengstschläger von der Forscherin wissen, inwiefern sich Hate Speech, Cyber Mobbing und digitale Gewalt unterscheiden. Eine Differenzierung sei kaum möglich, entgegnet die Familiensoziologin. „Speziell Jugendliche sind einer großen Bandbreite von Gewaltformen im Internet oder in Social Media ausgesetzt“, so Zartler. „Es beginnt bei Beleidigungen, anzüglichen oder rassistischen Bemerkungen und geht über Beschimpfungen bis hin zu manipulierten Fotos.“ Tina Ritschl entgegnete: „Ich habe gelesen, 95 Prozent der User*innen verbreiten keinen Hass im Internet. Stimmt das?“ Man müsse unterscheiden, um welche Altersgruppe und Themen es gehe, entgegnete die Wissenschafterin: „Im Rahmen einer Studie, die repräsentativ für Jugendliche von 15 bis 19 Jahren in Wien ist, haben wir gesehen, dass 98 Prozent der Befragten, also de facto alle, Hate Speech beobachtet haben. Zwei Drittel der Befragten waren schon Opfer, ein Drittel war Täter*in.“
Enorme Reichweite
Damit aber sei es nicht genug, so Ulrike Zartler. „Es gibt einen großen Kreis von sogenannten Online-Bystandern, also unbeteiligte Dritten, die zuschauen, wenn Hate Speech passiert“, erklärt die Soziologin. „Daher beschäftigen wir uns in unserer Forschung nicht nur mit dem Phänomen generell, sondern wir möchten aufzeigen, was diejenigen tun können, die zusehen.“ Das brachte Tina Ritschl zu einem wichtigen Punkt: „Woher kommt dieser Hass? Ist er in uns Menschen drinnen oder hat erst Social Media und die Anonymität im Internet ihn hervorgebracht?“ Vieles sei gar nicht so hasserfüllt, wie es aussehe, entgegnet Ulrike Zartler. „Jugendliche haben manchmal einen sehr rüden Ton, wenn sie miteinander sprechen. Wir Wissenschafter*innen müssen erst deren Sprache lernen.“
Markus Hengstschläger hakte ein und wollte von der Ö3-Moderatorin wissen, ob sie selbst mit Hate Speech konfrontiert worden sei. Tina Ritschl verneinte, betonte aber, dass es in einer Live-Sendung schnell passieren könnte, dass eine unbedachte Äußerung einen Shitstorm auslöst. „Wer sich der Öffentlichkeit aussetzt, sollte sich ein Mindset antrainieren, dass man polarisiert“, fasste die Moderatorin zusammen. „Das ist nichts anderes, als wenn ich einen Raum betrete: Manche werden mich sympathisch finden, andere nicht. Es muss mich ja nicht jeder mögen.“ Ulrike Zartler hatte ein Gegenargument. „Das haben uns in unserer Forschung auch viele Jugendliche gesagt, im Internet oder Social Media gehöre Hate Speech dazu“, sagte sie. „Aber es ist wichtig, Jugendlichen aufzuzeigen, dass es bei Beschimpfungen, Beleidigungen oder bei der Art, wie jemand behandelt wird, auch sinnvoll ist, dagegen aufzustehen und Gegenrede im Sinn von Counter Speech zu üben.“
Nicht alles hinnehmen
Markus Hengstschläger wollte wissen, ob Counter Speech unter Jugendlichen stattfände. Selten, gibt die Wissenschafterin zu. „Erstens haben die Jugendlichen den Eindruck, dass es nichts bringt, zweitens wird es von vielen Plattformen verunmöglicht und drittens exponieren sich die Jugendlichen damit auch selber und werden vielleicht selbst zur Angriffsfläche“, fasst Ulrike Zartler zusammen. „Aber das sollte uns nicht daran hindern, Cyber Heroes, die wirklich gegen Hass im digitalen Raum auftreten, zu fördern.“
Auf Tina Ritschls Frage, wie das denn möglich wäre, ging die Familiensoziologin ins Detail. Sie erzählte, dass partizipative Forschung in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung sei. Denn Erwachsene könnten die Welt der Zielgruppe nicht verstehen. „Wir betrachten die Jugendlichen als Expert*innen und arbeiten bei unseren Projekten eng mit ihnen zusammen“, so Zartler. „Wir simulieren in Aktionsforschungsprojekten etwa in Form von Rollenspielen mit eigens erstellten Social-Media-Accounts solche Situationen – das Wichtige aber ist, danach mit ihnen über ihre Erfahrungen zu sprechen.“ Aus dieser Zusammenarbeit entstünden Unterlagen, die von Partnerorganisationen wie etwa Safer Internet oder dem No Hate Speech Komitee an Schulen verwendet würden. Trainings dieser Art fördern die Zivilcourage im digitalen Raum.
KI und Counter Speech
Markus Hengstschläger brachte noch einen Punkt ins Spiel. „Kann man nicht Künstliche Intelligenz etablieren, die bei Hate Speech automatisch eingreift?“, wollte er wissen. Auch das sei etwas, woran geforscht würde, entgegnet Ulrike Zartler. „Wir arbeiten mit einem Team von Soziolog*innen und Informatiker*innen zusammen, mit denen wir versuchen, technische Lösungen für das Problem zu entwickeln.“ Es sei aber nicht so einfach, weil KI Hate Speech zunächst einmal erkennen müsse und sie die Gegenrede einfach übernehmen könne. „Aber wir wollen Jugendlichen Formulierungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, wenn sie Gegenrede üben wollen.“
Die Idee ist, dass etwa Blasen aufpoppen, in denen gefragt wird „Willst du das wirklich so stehenlassen?“, sobald KI Hate Speech erkennt. Im Forschungsteam werden auch Vorschläge für eine Gegenrede entwickelt, so Zartler. „Es geht erstens darum, bei den Jugendlichen das Bewusstsein für das Problem zu stärken“, so die Forscherin. „Aber es geht auch darum, ihnen Werkzeuge in die Hand zu geben, denn wir sehen in unseren Studien, dass Jugendliche, die geringere Bildungschancen haben, stärker vorgefertigte Möglichkeiten benötigen, weil sie nicht so versiert darin sind, Counter Speech zu formulieren.“ Markus Hengstschläger hakte nach: „Gibt es einen Zusammenhang zwischen Bildung und Hate Speech?“ Die Familiensoziologin verneinte.
„Aber Jugendliche mit geringerer Bildung gehen sehr schnell in den Gegenangriff – es ist dann schwer feststellbar, wo hört Hate Speech auf und fängt Counter Speech an, weil die Entgegnungen auch sehr aggressiv sind“, betonte sie. „Daher ist es wichtig, dass Jugendliche, die sprachlich nicht so gewandt sind, Entgegnungsmöglichkeiten angeboten bekommen.“ Dass es hilfreich sei, eine andere Perspektive aufgezeigt zu bekommen, diese Erfahrung hat Tina Ritschl in ihrer Sendung „Frag das ganze Land“ schon öfters bemerkt. „Oft verbohren sich Menschen in ihre Sichtweise“ , erzählte die Moderatorin. „Eine Gegenfrage kann die Augen öffnen und für Verständnis sorgen. Es ist wichtig, dass man erkennt, die Welt ist nicht nur schwarz der weiß ist, sondern bunt und vielfältig. Und so soll es auch so bleiben.“
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