Vetements: Ghetto-Mode als ästhetische Subkultur
Was "Tocotronic" schon vor 21 Jahren so gerne wollten, ist heute gar nicht mehr so einfach: Teil einer Jugendbewegung zu sein.
2016 haben inszenierungswütige TV-Starlets wie Kylie und Kendall Jenner mehr als 60 Millionen Follower auf Instagram und geben Lifestyle- und Mode-Vorlieben für Millionen von Jugendlichen vor. Die ästhetische Gemeinsamkeit muss aber reichen - mit gesellschaftspolitischen Themen befassen sich die mächtigsten Trendsetter der Social Media Welt nicht so gerne.
Eine Modemarke zeigt das neue Lebensgefühl
Hierzulande versuchten sich die "Krocha" im Jahr 2008 zuletzt als Jugendbewegung. Allerdings einte auch die kurzlebige Wiener Subkultur keine Weltanschauung, sondern lediglich "Puta Madre 69"-T-Shirts und eigenwilige Disco-Tänze als Freizeitbeschäftigung.
Und als ob es unsere Konsumgesellschaft ohnehin nicht anders verdient hätte, will uns jetzt ein Modelabel ein neues Lebensgefühl mit Street Credibility anbieten, das mit Begeisterung angenommen wird.
Die Raver der 90er sind zurück
Vetements wird von der Vogue bis zur Welt als Label der Stunde gefeiert. Die französische Marke, die übersetzt nicht mehr als "Kleidung" bedeutet, zeigt den ranzig-zwanglosen 90er-Jahre Steet-Style auf die Spitze getrieben, dekonstruiert ihn und setzt ihn neu zusammen - und das im wahrsten Sinne des Wortes. Bomberjacken werden von Army-Shops eingekauft, zerschnitten und als neues Design wieder zusammengenäht.
Mit den Stilmerkmalen der Rave-, Skater- oder Hooligan-Szene spielt das in Georgien geborene Vetements-Mastermind Demna Gvasalia nur allzu gerne und entwirft damit quasi seine eigene Subkultur - wenn auch nur eine ästhetische.
"Es geht um Kleider für die Straße. Wir machen was uns selbst gefällt und wir auf der Straße entdecken. Ich will mich nicht eingeengt an einem bestimmten, sechs Monate gültigen Thema abarbeiten", erklärt der seit 2001 in Deutschland lebende Modemacher seine Arbeitsweise.
"Da draußen gibt es so viele Kollektionen, so viel Mode. Da käme es mir merkwürdig vor, noch etwas Neues draufsetzen zu wollen. Es gibt bereits viele Dinge, die wir lieben. Warum sie nicht anders machen, so, wie es uns gefällt?"
200 Euro für ein Paketboten-T-Shirt
Vor seinem fulminanten Alleingang war der ehemalige Mode- und Wirtschaftsstudent bei Louis Vuitton im Einsatz und Schüler von Martin Margiela. Durch den Hype um seinen bewusst imitierenden Retro-Ghetto-Stil wurde auch das Modehaus Balenciaga auf ihn aufmerskam, das er seit Ende 2015 künstlerisch leitet.
Mit Vetements trifft Demna Gvasalia den neu aufkeimenden Zeitgeist nach ungeschöntem Echtem schon jetzt mitten ins Mark und begeistert Modekritiker, die sich am artifiziellen Glamour-Look der Luxus-Labels offenbar sattgesehen haben.
Dabei sind die bekannten DHL-Paketboten-T-Shirts von Vetements um 200 Euro pro Stück nicht günstiger als ein Pulli von Versace oder Givenchy. Der versiffte Billig-Look kann also einiges kosten.
Scheinbare Authentizität
Windjacken, übergroße Hoodies, weite Kleider, Heavy-Metal-Pullis, Skater-Pants und Bomberjacken werden bei dem 35-Jährigen nicht wie heute üblich von bekannten Models oder Hollywoodstars angepriesen - Gvasalia hat sich Street Style Fotos verschrieben, auf denen unbekannte Personen die sündteuren Ghetto-Designs scheinbar ganz nebenbei und ungeschönt präsentieren.
Moderiesen kopieren
Das derzeitige Must-have des Labels sind Hosen, die aus mehreren alten Levis-Jeans neu zusammengesetzt werden. Eine Upcycling-Hose kommt auf 1000 Euro und wird von Moderiesen wie H&M bereits fleißig kopiert. Diese Tatsache bestätigt wohl am eindrücklichsten, dass Gvasalia es innerhalb von nur zwei Jahren geschafft hat, mit seinen Designs die Modewelt zu beeinflussen.
Die Kardashians sind schuld
Nach dieser hochstilisierten Authentizität von Vetements sehnen sich nicht nur unzählige Fashionistas, die Gvasalia frenetisch beklatschen – auch Rapper Kanye West outete sich schon mehrmals als großer Fan.
Ja, sogar Kylie Jenner und Kim Kardashian führen die Teile bereits stolz aus – womit Vetements seinen Status als neue Mode-Subkultur auch schon wieder verspielt hat und im Eilverfahren im Mainstream angekommen ist.
Subkultur laut Duden: innerhalb eines Kulturbereichs, einer Gesellschaft bestehende, von einer bestimmten gesellschaftlichen, ethnischen o. ä. Gruppe getragene Kultur mit eigenen Normen und Werten.
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