Mit 100 Jahren mitten im Beruf

Marko Feingold, Präsident Israelitische Kultusgemeinde Salzburg
Der Präsident der Kultusgemeinde Salzburg bleibt trotz seines hohen Alters im Amt.

Er kommt mir forschen Schritts entgegen. Dennoch frage ich Marko Feingold vorsichtig, ob wir die Fotos draußen auf der Straße machen können oder ob das zu mühsam für ihn sei. „Mühsam?“ reagiert er erstaunt. „Für Sie vielleicht – für mich nicht!“ Und schon eilt er die Stiegen hinunter und die steile Seitenstettengasse hinauf, dem Fotografen entgegen. Marko Feingold ist in Wien, um an einer Sitzung der Israelitischen Kultusgemeinde teilzunehmen. Er ist jedenfalls der jüngste 100-Jährige, dem ich je begegnet bin. Und das nach einem Leben voller Katastrophen und Schicksalsschläge.

Büro und Vorträge

Marko Feingold ist Präsident der Kultusgemeinde in Salzburg. „Es ist viel zu tun, obwohl es bei uns nur mehr 70 Juden gibt. Aber es gibt auch Antisemiten. Letztens hatte ich das Problem, für einen jüdischen Arzt aus Russland eine Stelle zu finden.“

Nächsten Dienstag wird Marko Feingold 100 Jahre alt. Und das mit Fulltimejob. „Ich bin drei bis vier Mal in der Woche im Büro und halte noch viele Vorträge, manchmal zwei bis drei am Tag.“

Wir gehen, als die Fotos fertig sind, zurück ins Gebäude der Wiener Kultusgemeinde – nein, wir gehen nicht: wir laufen. „Hinauf geht’s schneller als hinunter“, sagt er, und schon sind wir im zweiten Stock, wo er seine Erzählung ohne Luft zu holen fortsetzt.

Mit 100 Jahren mitten im Beruf
Die vier Feingold-Kinder: Marko (ganz rechts) mit seinen Geschwistern Fritz, Rosa und Ernst, um 1921 Foto privat/frei lt. Georg Markus
Marko Feingold kam am 28. Mai 1913 in Neusohl in der damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Slowakei zur Welt. „Aufgewachsen bin ich in Wien, hab hier eine Kürschnerlehre absolviert, war dann Handelsangestellter. Als 1932 die Arbeitslosigkeit schlimm wurde, gingen mein Bruder und ich als Vertreter nach Italien.“ Ausgerechnet am 12. März 1938, an dem Hitler einmarschierte, waren Marko und Ernst Feingold in Wien, um ihre Pässe verlängern zu lassen. „Wir wurden verhaftet, aber nach fünf Wochen freigelassen, weil die Gestapo eigentlich unseren Vater suchte.“

Gefälschte Papiere

Die Brüder flüchten nach Prag, arbeiten dort nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland mit Hilfe eines SS-Mannes, den sie noch aus Wien kannten und mit gefälschten Papieren. Sobald ihre jüdische Identität auffliegt, werden sie in Viehwaggons nach Polen deportiert. Als Marko Feingold im Konzentrationslager Auschwitz sein Geld abliefern muss, sagt ein Mithäftling zu ihm: „Du wirst es nicht mehr brauchen, deine Lebenserwartung beträgt drei Monate, dann gehst du durch den Kamin.“

Marko Feingold wiegt bei körperlicher Schwerstarbeit nur noch 30 Kilogramm. Er erleidet drei weitere KZs, darunter Dachau und Buchenwald, wird gefoltert und blutig geschlagen und zählt mit seiner Zähigkeit dennoch zu den wenigen, die überleben.

Wie jedes Jahr war der bald 100-Jährige auch heuer im April als Zeitzeuge mit jungen Leuten in Auschwitz.

Keiner hat überlebt

Mit 100 Jahren mitten im Beruf
Wieder in Freiheit: Marko Feingold, 1946 Foto privat/frei laut Georg Markus
Die Frage, ob seine Langlebigkeit genetisch bedingt sei, kann er nicht beantworten, „weil keiner aus meiner Familie die Nazis überlebt hat, ich weiß nicht, wie alt sie geworden wären.“

Nach der Befreiung aus Buchenwald im April 1945 fährt Feingold mit einem Bus Richtung Wien, steigt aber in Salzburg aus und bleibt. Er organisiert die Umsiedelung Zehntausender osteuropäischer Juden über Österreich nach Palästina. Er heiratet und eröffnet 1948 mit einem Teilhaber ein Modegeschäft.

Schneeschaufeln

Feingold leitet die Kultusgemeinde Salzburg – mit Unterbrechungen – seit 67 Jahren. „Ich glaube an eine höhere Macht, bin aber nicht besonders religiös, das muss man bei uns nicht sein.“ Und er bleibt auch mit 100 Präsident. „Was soll ich tun? Ich finde keinen Nachfolger.“ Er betreut die Synagoge, erledigt alles selber, inklusive Schneeschaufeln im Winter.

Erstaunlich, dass dieser Mann sein Leben lang kränklich war. „Einmal abgesehen von der NS-Haft, hatte ich ständig Magenbeschwerden und Bandscheibenprobleme. Gesund bin ich erst im Alter geworden. Heute fühl ich mich, als wär ich 80.“

Mit 100 Jahren mitten im Beruf
Marko Feingold, Präsident Israelitische Kultusgemeinde Salzburg
Dabei hat er sich nie besonders gesund ernährt, „ich esse, was mir schmeckt, hab allerdings nie viel Alkohol getrunken und nicht geraucht. Außer in den 48 Jahren Ehe mit meiner ersten Frau, die eine starke Raucherin war. Da musste ich viel mitrauchen.“ Seine zweite Frau Hanna ist um 35 Jahre jünger als er.

Respektsperson

Feingold ist eine in Salzburg allseits bekannte Respektsperson. Die Leute grüßen ihn, wenn er im Eiltempo unterwegs ist. Der 100. Geburtstag des Hofrats und Ehrenbürgers der Stadt wird mit einem Fest in der Erzbischöflichen Residenz gefeiert, „dort, wo man vor 500 Jahren die Juden vertrieben hat“. Bürgermeister Schaden wird die Laudatio halten.

„Dass ich noch tätig bin und gebraucht werde, ist ein Geschenk“, sagt Marko Feingold. „Aber ich weiß, dass ich 100 bin und hab mit allem abgeschlossen. Ein, zwei Jahre schaff ich noch, aber ich kann mich auch heute verabschieden. Alles ist vorbereitet, ich hab für alles gesorgt.“

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