Lindsey Vonn: "Tiger ist nicht dominant"
Der Tag des ersten Rennens bei der alpinen Skiweltmeisterschaft in Schladming war ein grauer Dienstag, Plusgrade, Regen, Nebel. Es hatte geschneit in den Tagen davor und die Piste war weich und klebrig an diesem 5. Februar 2013, vor allem abseits des schmalen Korridors entlang der so-genannten Ideallinie.
Der für 11 Uhr angesetzte Start des Super-G-Laufs der Damen wurde aufgrund des Wetters immer wieder verschoben.
Es begann bereits zu dämmern, als nach 15 Uhr die Favoritin auf WM-Gold mit Startnummer 19 ins Rennen ging. Vier Hundertstelsekunden Vorsprung bei der ersten Zwischenzeit, zwölf Rückstand bei der zweiten. Der Lauf endete nach 44 Fahrsekunden.
In Lindsey Vonns seitlich abgeknicktem rechtem Knie rissen Innen- und Kreuzband, der Schienbeinkopf wurde verletzt. Fünf Tage später wurde Vonn in den USA operiert. Dann positive Nachrichten: Sie wird die Karriere fortsetzen können. Da lief der Comeback-Countdown bereits, auch das Visier war schon scharfgestellt: Mittwoch, 12. Februar 2014, Sotschi, Olympia-Abfahrt der Damen.
Lindsey Vonn, wie oft denken Sie noch an den Sturz von Schladming, der beinahe Ihre Karriere beendete?
Gar nicht mehr.
Aber Sie haben ihn sich angesehen?
Ja, ein paar Mal auf YouTube. Ich wollte wissen, ob er so aussieht, wie er sich angefühlt hat.
Und?
Wie war das Gefühl beim Ansehen?
Ich war wütend.
Ihr Red Bull Athleten-Betreuer Robert Trenkwalder sagt, eine so schwere Verletzung wie jene von Schladming hat auch positive Aspekte. Er sagt, man reift, man lernt – vor allem Geduld.
Geduld, uh.
Uh?
Bisher konnte ich Verletzungen immer durchpushen. Das ging diesmal nicht. Zum ersten Mal war eine Verletzung größer als mein Wille. In den ersten drei Wochen war das extrem hart zu akzeptieren. Ich konnte nichts tun außer sitzen – ich konnte mir noch nicht mal einen Kaffee holen. Da war nichts mit Pushen. Ich konnte nur Warten.
Und? Sind Sie in dieser Zeit ein geduldigerer Mensch geworden?
Hm. Ich habe es versucht. Was ich in dieser Zeit auf jeden Fall gelernt habe, war, auf meinen Körper zu hören …
Verzeihung, „auf den Körper zu hören“, was heißt das konkret?
Ich habe tatsächlich in mein Knie hineingehört. Man kann sagen, ich habe in dieser Zeit mit meinem Knie kommuniziert.
Es gab im deutschen Fernsehen eine große Dokumentation über Sie, direkt vor der WM, in der Sie sagten, dass Sie nach dem harten Jahr 2012 mit dem Depressions-Outing und der Scheidung zum ersten Mal das Gefühl hatten, erwachsen zu sein – mit immerhin 28.
Ja, ich war erstmals an einem Punkt, an dem ich selbst bestimmte, was in meinem Leben passiert.
Dieses späte Erwachsenwerden hatte sehr damit zu tun, dass Sie immer dominante Männer um sich hatten, zuerst Ihren Vater, dann Ihren Ehemann …
… ja …
Der aktuelle Mann an Ihrer Seite ist eine Sport-Ikone, der bestverdienende Athlet der Welt, mit 14 Golf-Major-Titeln …
… hahaha, nice try! Natürlich ist Tiger ein starker Charakter, aber er ist nicht dominant. Er spielt eine völlig andere Rolle. Was in meinem Leben passiert, bestimme ich. Daran ändert auch Tiger nichts.
Mich würde der Einfluss interessieren, den es auf eine Sportlerin hat, mit einem der erfolgreichsten Sportler der Welt zusammen zu sein. Macht Tiger Woods Lindsey Vonn zu einer besseren Skifahrerin?
Zu einer besseren Athletin, würde ich sagen, das schon. Ein Beispiel: Ich würde ja nicht sagen, dass ich unprofessionell bin. Aber die Konsequenz, in der Tiger Professionalität versteht… wow. Niemand hat eine Ahnung davon, wie hart Tiger arbeitet. Wirklich, niemand. Aber Tiger sagt, er will fitter sein als alle anderen, das ist sein Weg. Also pusht er sich viel weiter, als es vielleicht nötig wäre. Und das zu erleben, das pusht wiederum mich. Außerdem hat Tiger eine unglaubliche mentale Stärke. Früher dachte ich, Golf heißt auf den Ball draufhauen und mal sehen, wie weit er fliegt. Seit ich Tiger bei Turnieren zusehe, weiß ich: Golf ist ein unfassbarer Marathon, vier Tage, und jeder verdammte Schlag zählt, genauso wie ein einziger schlechter Zug genügt, um eine ganze Schachpartie zu verlieren. Es gab Momente bei Golfturnieren, in denen ich zu mir sagte: Okay, Lindsey, das also ist das nächste Level von Selbstvertrauen, Konzentration, Kontrolle. Wenn du es auf dieses Level schaffst, wirst du auch zu einer besseren Skifahrerin.
Was war so ein Moment, zum Beispiel?
Beim Masters in Augusta, dieses Jahr. Da gab es diesen Schlag, bei dem Tiger die Fahne getroffen hat. Dieser Schlag hat ihn das Turnier gekostet. Aber er blieb ruhig, hat weitergekämpft. Er blieb sogar ganz ruhig, als sie ihn dann disqualifizieren wollten. Mich hat diese ganze Sache mehr mitgenommen als ihn.
Hmmm … nie drüber nachgedacht … (schließt die Augen und hebt die Hände vor die Brust) … nein, es sind die Ski.
Fahrt Ihr diese virtuelle Streckenbesichtigung in Echtzeit?
Unmittelbar vor dem Start nicht, da ist das nur eine Auffrischung. Aber im Sommer, wenn wir die Strecken visualisieren oder bei Rennsimulationen auf Balancegeräten, da stimmen die Zeiten. Manchmal lasse ich sogar eine Uhr mitlaufen.
Sie haben alle Abfahrtsstrecken des Winters in Ihrem Kopf, und jede Kurve, jeden Sprung, jederzeit abrufbar?
Klar.
Das heißt, Sie könnten auch jetzt – im 15. Stock eines Hotels in Miami – die Strecken von Cortina, Beaver Creek, Sotschi runterfahren, alle in Echtzeit?
Ja, klar.
Fahren Sie in Ihren Gedanken immer Bestzeit?
Zeit ist keine eingeblendet. Aber die Linie ist meistens perfekt. Nur manchmal passiert es, wenn ich nachts nach dem Zubettgehen noch Kurse visualisiere, dass ich kurz vor dem Einschlafen stürze – einfach, weil ich zu müde geworden bin. Meistens schrecke ich da hoch und bin wieder wach. Dann muss ich noch mal rauf an den Start.
Der vollständige Artikel in der Dezember/Januar-Ausgabe von The Red Bulletin – erhältlich als E-paper auf iTunes oder Google Play sowie als Red Bulletin App
Anmerkung: Dieses Interview wurde vor Lindsey Vonns Sturz im November 2013 geführt.
Glück im Sport und der Liebe:
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