Ein neuer Held für eine Nation von Radlern

Souverän: Der Italiener Vincenzo Nibali gab sich auch im Zeitfahren keine Blöße und wird am Sonntag als Tour-Sieger in Paris gefeiert werden.
Vincenzo Nibali hat mit seinem Sieg in Frankreich viele Erinnerungen ausgelöst. Auch böse.

137,5 Kilometer von Évry auf die Pariser Champs-Élysées muss Vincenzo Nibali am Sonntag noch überstehen, dann darf sich der 29-jährige Italiener in eine Reihe mit den ganz Großen des Radsports stellen.

Erwartungsgemäß genügte das 54 Kilometer lange Einzelzeitfahren durchs Hügelland zwischen Bergerac und Périgueux der Konkurrenz nicht mehr, um den Sizilianer noch vom Thron zu stoßen. Nibali, der im Kampf gegen die Uhr bei den Junioren und in der U-23-Klasse seine ersten (bronzenen) WM-Medaillen erobert hat, wurde in 1:08:19 Minuten Vierter (Durchschnittstempo: 48 km/h), der Schnellste auf der schwierigen Strecke war wie erwartet der Deutsche Tony Martin, der in der Gesamtwertung aber ebenso abgeschlagen ist wie der Rest der Konkurrenz. Weil auf der Schlussetappe traditionell keine Attacken mehr gegen den Gesamtführenden gefahren werden, hat Nibali damit schon so gut wie gewonnen, ins Ziel muss er halt noch kommen.

Unter den Größten

Vincenzo Nibali ist damit einer von nur sechs Fahrern, die bei allen drei großen Landesrundfahrten gewonnen haben. Neben der Tour de France sind dies der Giro d’Italia und die Vuelta a España, Ersteres hat Nibali 2013 erledigt, Letzteres 2010, nun stellt er sich als Sechster neben ein Quintett des Who is Who des Radsports: Der Belgier Eddy Merckx, der Italiener Felice Gimondi, der Spanier Alberto Contador und die Franzosen Jacques Anquetil und Bernard Hinault haben vor ihm dieses sportliche Kunststück zusammengebracht.

Speziell aus italienischer Sicht ist dieser Erfolg gar nicht hoch genug einzuschätzen – die letzten Tour-Siege hatten Marco Pantani 1998 und Felice Gimondi 1965 (!) nach Italien geholt. Wenig überraschend überschlagen sich denn auch die Gazetten in Superlativen für den neuen Helden: "CaNIBALIssimo", titelte Tuttosport in Anlehnung an Eddy Merckx, den sie einst "den Kannibalen" genannt hatten, weil er seinen Rivalen nicht einmal Etappensiege gönnen mochte.

Gar so brutal geht Nibali freilich nicht zu Werke, er hätte heuer mehrfach die Chance gehabt, noch mehr als seine vier Tagessiege zu holen, doch der 29-Jährige ließ Gnade walten. Verschont blieb auch er selbst bislang, was Dopingfälle angeht: Anders als Merckx, Gimondi, Contador und Anquetil ist Vincenzo Nibali bislang nicht wegen unerlaubter Machenschaften aufgefallen. Insofern ist es für Radsportkenner auch leicht befremdlich, was der Corriere dello Sport schrieb: "Eine Heldentat aus einer anderen Zeit" sei sein Parforceritt hinauf nach Hautacam gewesen, als er die Rivalen aussehen ließ, als wären sie mit einem schweren Waffenrad am Berg unterwegs.

Das waren sie natürlich nicht, und auch Nibali konnte dieses Tempo nicht durchstehen. 37:30 Minuten wurden als Auffahrtszeit gestoppt, etliche Athleten waren bei den vorangegangenen Befahrungen schneller als der Italiener, 2:50 Minuten trennten ihn vom Streckenrekord, den einer hält, der als "Monsieur 60 Prozent" in die Radgeschichte einging: Bjarne Riis wies in seiner aktiven Zeit häufig Hämatokritwerte in diesem Bereich auf, womit der Anteil der roten Blutkörperchen weit über dem Normbereich und hart an der Grenze zur Gesundheitsgefährdung lag.

Unter Verdacht

Doch nun sei eine andere Zeit als zu jener Hochphase des EPO-Dopings, wird Nibali mit viel Geduld nicht müde zu erklären. Es wäre schön, wenn dem so wäre – denn im Umfeld seines kasachischen Rennstalls Astana tummeln sich noch immer einige Figuren, deren Weste keineswegs blütenweiß ist. Angefangen von General Manager Alexander Winokurow (Fremdblutdoping und Betrug) über die Sportlichen Leiter Dimitri Fofonow, Stefano Zanini und Gorazd Stangelj (ebenfalls wegen Dopings gesperrt) bis hin zum früheren Pantani-Betreuer Giuseppe Martinelli; Teamkollege Michele Scarponi war einst Kunde von Dr. Fuentes.

Und Vincenzo Nibali? Der ist noch nie auffällig geworden. Es gibt Getuschel über Verbindungen zu Dottore Michele Ferrari, der einst schon Lance Armstrong betreut hat. Aber bewiesen ist nichts, auch ein Verfahren vor Gericht erhärtete die Gerüchte nicht. Und vielleicht sind die Zeiten ja wirklich anders.

20. Etappe: Bergerac - Perigueux, Einzelzeitfahren 54 km
1. Tony Martin GER 1:06:21
2. Tom Dumoulin NED + 1:39
3. Jan Barta CZE 1:47
4. Vincenzo Nibali ITA 1:58
5. Leopold König CZE 2:02
6. Tejay van Garderen USA 2:08
7. Jean-Christophe Peraud FRA 2:27
8. Sylvain Chavanel FRA 2:36
9. Markel Irizar ESP 2:39
10. Daniel Oss ITA 2:58
28. Alejandro Valverde ESP 4:28
113. Bernhard Eisel AUT 8:05

Gesamtwertung

Stand nach 20 von 21 Etappen:
1. Vincenzo Nibali ITA 86:37:52
2. Jean-Christophe Peraud FRA + 7:52
3. Thibaut Pinot FRA 8:24
4. Alejandro Valverde ESP 9:55
5. Tejay van Garderen USA 11:44
6. Romain Bardet FRA 11:46
7. Leopold König CZE 14:41
8. Haimar Zubeldia ESP 18:12
9. Laurens den Tam NED 18:20
10. Bauke Mollema NED 21:24
126. Bernhard Eisel AUT 4:13:45

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