Gestohlene Kindheit: Gewalt im Sport
Die erst gestern in England veröffentlichten Zahlen lassen die grausamen Verbrechen noch schrecklicher erscheinen. 155 Verdächtige wurden im Skandal um Kindesmissbrauch im englischen Fußball identifiziert, 148 Klubs werden durchleuchtet, 429 mutmaßliche Opfer wurden gezählt, die jüngsten davon waren zum fraglichen Zeitpunkt vier Jahre alt.
Im November war die Affäre um den vorbestraften früheren Jugendtrainer Barry Bennell ins Rollen gekommen. Von der "größten Krise, die der englische Fußball je erlebt hat", sprach bereits Greg Clarke, der Vorsitzende des Verbandes.
Auslöser war ein mutiges Interview des Ex-Profis Andy Woodward (43), der berichtete, wie er im Alter zwischen 11 und 15 Jahren als Spieler des heutigen Viertligisten Crewe Alexandra missbraucht worden war. Und er berichtete von fehlender Unterstützung, als er innerhalb des Klubs um Hilfe gebeten hatte. Doch die Gewalt an Minderjährigen im Sport beschränkt sich nicht auf England.
In Österreich musste der Prozess gegen Peter Seisenbacher am Montag vertagt werden, vom 56-Jährigen fehlt jedes Lebenszeichen. Dem Doppelolympiasieger im Judo wird vorgeworfen, Mädchen sexuell missbraucht zu haben.
In den USA wurde vor einer Woche bekannt, dass 368 Turner und Turnerinnen in den vergangenen zwanzig Jahren sexuell missbraucht wurden. Recherchen der Zeitung IndyStar mit USA Today zeichnen ein erschütterndes Bild von Olympia-Trainern, die zwölfjährige Mädchen belästigten; von Betreuern, die Nacktfotos von sechsjährigen Buben machten; von einem Coach, der beinahe täglich Sex mit einer 14-Jährigen gehabt haben soll. Der Turnverband soll diese Fälle vertuscht haben.
Die Mehrzahl sexueller Übergriffe kommt aus dem familiären Umfeld. Dass es auch in Sportvereinen immer wieder zu solchen Taten kam und kommt hat laut Experten vor allem drei Gründe:
1.) Gerade durch die Körperlichkeit des Sports können Annäherungsversuche geschickt getarnt werden. Scheinbar zufällig werden Kinder bei Hilfestellungen zwischen den Beinen berührt oder an der Brust. Beim Umziehen in der Dusche fallen Blicke auf die Geschlechtsteile kaum auf.
2.) Kinder träumen vom großen Erfolg, von Weltmeisterschaften und von Olympia. Sie lernen früh, dass man dafür auch Opfer bringen muss. Doch dann werden gerade jene Sportler tatsächlich Opfer, die sehr früh beginnen, ihren Traum zu verfolgen.
3.) Den Trainern wird im Verein oft großes Vertrauen entgegengebracht, ihr hohes Engagement lässt sie positiv dastehen, von den Kindern werden sie oft verehrt. Dies macht es den Opfern noch schwerer, sich Gehör zu verschaffen. Oft können sie erst über die Übergriffe sprechen, wenn sie sich selbst vom Verein gelöst haben oder wenn ihr Peiniger nicht mehr dort ist. Häufig sind die Fälle dann schon verjährt.
Abhängigkeiten
"Jegliche Form von Missbrauch ist dort am wahrscheinlichsten, wo Menschen in starker Abhängigkeit gehalten werden", sagt Rudolf Müllner vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien. "Also in einseitigen Autoritätsbeziehungen, wie in manchen Kinderheimen oder in neurotischen Familiensystemen. Aber auch dort, wo das Erreichen eines Zieles sehr bedeutend für das eigen Leben ist.
Also auch im Leistungssportsystem der DDR oder im NS-Sport." Generell sei das Thema "sexueller Missbrauch im Sport" noch unterbelichtet. Müllner: "Ich fürchte, dass die Dunkelziffern auch in westlichen Systemen extrem hoch sind."
Bereits erforscht wurden die Übergriffe an den DDR-Internaten. Neben dem staatlichen Doping gehörte sexualisierte-, physische und verbale Gewalt gegen Minderjährige zum Alltag des DDR-Sports, publizierten Forscher der Universität Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern). Etwa 25 Prozent der 1000 befragten Sportler berichten über entsprechende Übergriffe, sagte der Leiter der Forschungsgruppe, Harald Freyberger. Das ist drei Mal so viel wie in der Allgemeinbevölkerung. Zudem waren die Kinder oft sehr lange von ihren Eltern getrennt.
All dies führe zu schweren Erkrankungen. Die Lebenserwartung der Sport-Geschädigten soll um bis zu zehn Jahre verkürzt sein. Sie leiden oft bis zu ihrem Tod an den Folgen des Missbrauchs.
Renate Sachs ist Klinische Psychologin der MA 11 (Amt für Jugend und Familie) in Wien und Expertin für sexuelle Gewalt.
KURIER: Wie kann sexuelle Gewalt entstehen?
Sie kann überall passieren, aber sie ist kein Zufall. Übergriffe passieren auch nicht durch Fremde, sondern sehr häufig durch Bezugspersonen: Stiefväter, Onkel, Lehrer, Sporttrainer. Sexuelle Gewalt ist vom Täter meistens geplant. So suchen etwa Pädophile alleinerziehende Frauen mit Kindern oder Einrichtungen, wo sie leicht Zugang zu Kindern haben.
Ist der Sport durch seine Körperlichkeit stärker gefährdet?
Ja. Wenn man sich körperlich so nahe kommt, auch unter der Dusche, kann man leicht sagen: ‚Das ist eine Hilfestellung‘, oder: ‚Ich muss dich da waschen.‘ Gefährdet sind besonders Kontaktsportarten. Da kann man leicht sagen: ‚Ich habe dich da angreifen müssen.‘ Die Kinder glauben das dann wirklich. Zudem kann ein Trainer ein Kind begünstigen, indem er es etwa für einen Bewerb nominiert.
Welche Folgen hat das?
Es kann sogar passieren, dass die Kinder das dann freiwillig mit sich machen lassen. Aber es bleibt ein Missbrauch. Weil vor dem 14. Lebensjahr ist Sexualität mit Kindern nicht erlaubt.
Wer sind die Täter?
Sie machen sich im Verein beliebt, sie arbeiten sehr oft ehrenamtlich und besonders gerne mit diesem einen Kind – doch sie planen einen Übergriff. Man weiß von Pädophilen, dass sie sehr junge Kinder suchen, Vorschulkinder, weil die in einem Prozess nicht aussagefähig sind.
Welche Kinder sind besonders gefährdet?
Generell ist das schwer zu beantworten. Aber zur Zielscheibe werden oft Kinder, die Probleme mit ihrem Selbstbewusstsein haben. Kinder, in deren Familien sexuelle Grenzen überschritten werden, wenn etwa ein fremder Mann da ist, dem man gleich ein Bussi geben muss. Und man weiß, dass es auch Kinder sind, die sehr wenig über Sexualität wissen. Wenn in einer Familie Sexualität verpönt ist, werden diese Kinder neugierig. Denen kann man alles erzählen. Gefährdet sind außerdem Kinder, die daheim Probleme haben. Oft erzählen die nichts.
Was kann man präventiv tun?
Wir brauchen mehr Präventionsangebote für Kinder, wo sie lernen, was normal ist und was nicht normal ist. In Kindergärten und Schulen wird das schon teilweise vermittelt. Aber in den Vereinen wird das fast nie gemacht. Außerdem müssen die Mitarbeiter in den Vereinen aufgeklärt und geschult werden.
Worauf könnte man achten, wenn man sein Kind in einen Sportverein schickt?
Wichtig ist, dass der Verein mit den Kindern klare interne Regeln aufstellt. Etwa: Wir behandeln einander respektvoll, wir bewahren Distanz, wir schlagen einander nicht, wir wahren die Intimität in den Kabinen. Diese Regeln aufzustellen ist ganz leicht. Übergriffe werden begünstigt, wenn es keine Regeln gibt oder zu autoritäre Regeln. Und die Institutionen müssen den Kindern glauben, wenn sie von Grenzverletzungen berichten und Verfahren einleiten.
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