Tottenhams Stadion: Palast der Träume um eine Milliarde Pfund
3. April, Tottenham Hotspur gegen Crystal Palace. Nur auf dem Papier ein ganz normales Premier-League-Spiel. An diesem Tag ist ein Mann noch nervöser als Spurs-Trainer Mauricio Pochettino – der Architekt Tom Jones. Nach sieben Jahren Arbeit am neuen Tottenham Hotspur Stadium und kolportiert einer Milliarde Pfund Investitionen (1,16 Mrd. Euro) wird in London die modernste Fußballarena Englands und damit wohl auch Europas eröffnet. Aus Sicht der Spurs geht alles gut, Tottenham siegt 2:0.
Auch Jones ist zufrieden: An jenem Tag verfolgt der Chefplaner des Milliardenprojekts die Reaktionen der Fans in der BBC und in den sozialen Medien. „Soziale Medien zeigen die nackte Wahrheit. Den Fans gefiel es wirklich“, sagt Jones zum KURIER.
Vergangene Woche kam der britische Star-Architekt vom Büro Populous anlässlich einer Sportstätten-Tagung nach Wien. Thema: Wie baut man Stadien, die nach Großereignissen nicht wie „weiße Elefanten“ ungenutzt aus dem Stadtbild ragen, sondern der Gesellschaft möglichst viel bringen?
Im Londoner Stadtteil Tottenham hat man eine Multifunktionsarena gebaut. Das 62.000-Plätze-Stadion ist zugleich auch Shoppingcenter, Gastromeile, Luxusrestaurant mit Blick über London und vieles mehr.
Zwei Spielfelder
Die kühnste Idee ist wohl gewesen, unter dem Fußballfeld noch eine zweite Ebene mit Kunstrasen einzuziehen. Denn Amerikas NFL-Footballer gastieren viermal im Jahr in London. Der Naturrasen (für die Kicker) ist in drei Streifen teilbar und unter die Südtribüne verschiebbar. Während Football-Spielen oder Konzerten wird das Gras in einem unterirdischen Gewächshaus belüftet, beleuchtet und bewässert. An Lösungen wie diesen tüftelte Jones als Leiter eines 60-köpfigen Teams von Architekten und Designern.
Am Dienstag kommt mit Überraschungsteam Ajax Amsterdam erstmals ein ausländischer Gast ins Stadion der Superlative. Dorthin, wo mit der nun abgerissenen White Hart Lane gut hundert Jahre lang eine der traditionsreichen britischen Fußball-Bastionen stand. Doch egal, wie es gegen die Holländer ausgeht. Die Spurs gehören schon zu den Siegern der Saison.
Kurz nach Stadioneröffnung meldete Tottenham einen Gewinn 2018 von satten 113 Millionen Pfund (132 Millionen Euro). Und obwohl die Spurs im Sommer und im Jänner auf jegliche Transfers verzichteten, steuert man in der Liga wieder einen Champions-League-Platz an. Auch der Titel in der Königsklasse ist noch möglich. „Wir schaffen gerade ein Vermächtnis. Ich sehe eine Zukunft, in der Tottenham Titel gewinnt“, sagte der argentinische Coach Pochettino.
Das neue Multifunktionsstadion soll die Lücke zu Liverpool, Chelsea und den zwei Top-Klubs aus Manchester schließen. Seit elf Jahren wartet der Traditionsverein aus dem Norden Londons auf einen Titel.
Stadion-Brauerei
Meisterlich ist zumindest schon die Architektur. Der Abstand von Spielfeld und Tribüne ist mit fünf Metern kleiner als in allen anderen Stadien Englands. Die Schüsselform der Arena ermöglicht es, die Zahl der VIP-Plätze zu maximieren – sie liegen aber gut verteilt auf verschiedenen Ebenen, damit sich trotzdem eine „Hexenkessel“-Atmosphäre entfaltet. Und im Bauch des Stadions gibt es ausgedehnte Shopping-Angebote, eine 65 Meter lange Bar („die längste Europas“, sagt Jones) und die weltweit erste Mikro-Brauerei in einer Sportstätte.
Die Vision von Architekt Tom Jones: Die Fans sollen ein bis zwei Stunden nach dem Spiel noch im Stadion bleiben. Und die Leute im Viertel sollen auch unter der Woche kommen, um einzukaufen, essen oder auf einen Drink zu gehen. Ein Stadion als Keimzelle für Stadtentwicklung.
Impuls für armen Stadtteil
Die Stadtpolitik stand daher hinter dem Mammutprojekt. Tottenham ist einer ärmsten Stadtteile Londons, immer wieder brechen hier soziale Konflikte auf. Die großen Unruhen von 2011 mit brennenden Autos und geplünderten Geschäften nahmen wenige hundert Meter vom Stadion der Spurs ihren Ausgang. „Das Investment in dieses Stadion wird ein Trigger für den Stadtteil. Wir hoffen, dass Wohnungen entstehen und neue Geschäfte eröffnen“, sagt Jones. „Der Fußball pumpt regelmäßig mehr als 60.000 Menschen ins Viertel, die hier Geld ausgeben und die Gegend beleben.“
In Wien spielt man sportlich und - mit dem Happel-Stadion - auch baulich in einer anderen Liga. „So ein Luxusstadion wie in Tottenham braucht Wien nicht, aber ein solides Business-Konzept und das Prinzip einer multifunktionalen Arena mit Shoppingcenter und Wohnungen sind durchaus nachahmenswert“, sagt Harald Fux, Architekt und einer der Veranstalter der Sportstätten-Tagung in Wien.
Vielleicht kann Tottenham gegen Ajax in seiner neuen Heimat schon alles klarmachen. Ein Champions-League-Finale wäre der größte Erfolg der jüngeren Geschichte. Tottenham hat nun die perfekte Kulisse und womöglich auch die nötigen Spieler. Der Verein braucht nur noch eins. Ein wenig Geduld.
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