Schöttel: Erfolgsfaktor Fairness
Die Hunderter-Grenze wurde spät erreicht. Sehr spät sogar. Bei Spanien – Frankreich, also erst im 27. von 31 Spielen bei der EURO wurde die 100. Gelbe Karte des Turniers gezogen. Und die Roten Karten können trotz der beiden Ausschlüsse im Eröffnungsspiel weiter an einer Hand abgezählt werden.
Nicht einmal vier Verwarnungen pro Partie – dieser Schnitt liegt unter dem früherer Turniere und auch deutlich unter jenem der österreichischen Bundesliga. Dabei lassen die Schiedsrichter heute nicht mehr durchgehen als früher. Im Gegenteil.
Zu meiner Zeit als Spieler war bis zur ersten Gelben Karte noch viel erlaubt. Ich habe viele Verwarnungen kassiert, danach aber besonders aufgepasst. Fünf Ausschlüsse in 15 Jahren ergeben für einen Verteidiger einen respektablen Schnitt. Heute würde ich für die Spielweise von damals konsequenter bestraft werden. Die Schiedsrichter zeigen für das erste harte Foul Gelb, für gesundheitsgefährdendes Einsteigen sofort Rot. Jene, die Fußball spielen wollen, werden geschützt. Und das ist gut so, weil es auch die Spielweise im modernen Fußball verändert hat.
Besonders die Allerbesten verzichten so oft wie möglich auf ein Foul. Die deutschen Verteidiger haben im Spiel gegen die Niederländer gar keines benötigt. Insgesamt drei Gelbe Karten nach vier Spielen sind bemerkenswert wenig.
Ein Grund dafür ist die taktische Ausrichtung. Die spielerisch überlegenen Mannschaften müssen nur zweierlei fürchten: Einen Konter oder ein Gegentor aus einer Standardsituation. Deshalb wird bei Ballverlust bereits tief in der gegnerischen Hälfte attackiert.
"Unnötige Fouls" sind die wertvollsten
Wenn TV-Kommentatoren dann gerne von einem "unnötigen Foul" sprechen, liegen sie falsch. Gerade die taktischen Fouls weit weg vom eigenen Tor sind die wertvollen. Weil dafür kaum Karten gezeigt werden. Weil der mögliche Konter unterbunden wurde. Und weil von dort keine Gefahr aus einer von einem Spezialisten getretenen Standardsituation entstehen kann. Daraus abzuleiten sind auch die bei dieser EURO wenigen Tore aus Elfmetern und direkten Freistößen.
Warum die (auf hohem Niveau) schwächeren Teams wenige Karten sehen als früher? Weil sie in der Regel auf die Fouls produzierende Manndeckung verzichten und stattdessen kollektiv tief stehen und eng verteidigen. Deshalb muss weniger gegrätscht werden. Fouls nach einem missglückten Sliding Tackling schauen wild aus, werden oft mit Gelb bestraft, sind aber immer seltener zu sehen.
Ich habe aber auch einen generell veränderten Zugang zum Spiel gesehen. Partien, die den Eindruck eines Krieges auf dem Rasen vermitteln, gibt es kaum noch. Die Leidenschaft ist zwar noch da, aber aus Hass wurde (zumeist) Respekt. Gerade die Stars, die sich auch auf Klubebene duellieren, treten fair auf und versuchen, eine spielerische Lösung zu finden.
Versteckte Provokation hinter dem Rücken des Schiedsrichters haben mit der zunehmenden Anzahl an TV-Kameras abgenommen. Unsportlichkeiten sind kaum noch zu verheimlichen und sorgen sofort für ein Imageproblem. Das mussten auch die (früher beliebteren) Niederländer nach ihrem brutalen Einsteigen im
WM-Finale 2010 gegen Spanien zur Kenntnis nehmen.
peter.schoettel@kurier.at
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