Deutsche WM-Selbstkritik: "Wir sind eine sehr, sehr liebe Mannschaft"
Viel Talent, aber kein Sinn für dreckige Siege. Dazu Experimente statt Automatismen. Welche Schuld trägt Hansi Flick?
02.12.22, 19:52
Hansi Flick selbst hatte die Frage nach seiner persönlichen Zukunft schon vor dem finalen Gruppenspiel gegen Costa Rica weggelächelt. „Ich habe Vertrag bis 2024, und ich freue mich auf die Heim-EM.“ An dieser Einstellung hat sich auch nach dem Aus nichts geändert. „Mir macht’s Spaß“, sagte Flick in der ARD. „Wir haben eine gute Mannschaft.“ Am zweiten Teil seiner Aussage bestehen mittlerweile Zweifel. Ist das deutsche Team wirklich so gut?
Der Trend spricht dagegen. Nach dem Vorrundenaus 2018 in Russland war 2021 bei der Europameisterschaft im Achtelfinale Schluss – und jetzt in Katar trotz des 4:2-Sieges gegen Costa Rica erneut nach der Gruppenphase. „Das ist nicht unser Standard“, sagte Kai Havertz, der nach seiner Einwechslung mit zwei Toren von 1:2 auf 3:2 gestellt hatte. Der Sieg nutzte nichts, weil Japan das Parallelspiel gegen Spanien mit 2:1 für sich entschied. Bezeichnend, dass die Partie der Deutschen noch lief, während die andere schon abgepfiffen und das Aus besiegelt war. Flick und sein Team kämpften in den letzten Sekunden einen aussichtslosen Kampf.
„Es liegt an uns“, sagte der 57-Jährige. „Wir müssen uns an die eigene Nase fassen.“ Welche Schuld trägt der Bundestrainer? „Ich bin immer einer, der sehr kritisch ist, und das wird auch in die Analyse mit einfließen.“
Bernd Neuendorf, der DFB-Präsident, kündigte eine Krisensitzung für die kommende Woche an: mit Flick, mit Sportmanager Bierhoff und mit Hans-Joachim Watzke, dem Dortmund-Chef als Vertreter der Bundesliga.
„Meine Erwartung an die sportliche Leitung ist, dass sie zu diesem Treffen eine erste sportliche Analyse vornimmt, dass sie aber auch Perspektiven entwickelt mit Blick auf die EM im eigenen Land“, sagte Neuendorf. Eineinhalb Jahre bleiben, um bis zur EM eine konkurrenzfähige Mannschaft zu konstruieren. „Wir stehen wieder bei null“, sagte Innenverteidiger Antonio Rüdiger. „Das ist die harte Realität, in der wir uns befinden.“
Der Kader, den Flick für Katar nominiert hat, gibt den Zustand im deutschen Fußball wieder. Im zentralen Mittelfeld ballt es sich, vorne und hinten aber fehlt die nötige Qualität. „Wir reden schon seit Jahren über einen Neuner, den wir brauchen, über spielstarke Außenverteidiger“, sagte Flick. „Was uns im deutschen Fußball immer ausgezeichnet hat, ist, dass wir verteidigen konnten.“ Auch das war einmal.
Der deutsche Fußball verfügt über feine Techniker, die den möglichen Erfolg regelrecht verdribbelt haben: mit einer bemerkenswerten Sorglosigkeit, sowohl vor dem Tor des Gegners als auch bei der Verteidigung des eigenen. „Viel Talent: alles schön und gut. Aber es gehört mehr dazu als nur Talent“, sagte Antonio Rüdiger. „Diese letzte Gier, dieses Dreckige, das fehlt uns. Wir sind eine sehr, sehr liebe Mannschaft.“
Am Donnerstag ist den Deutschen endgültig das Label „Turniermannschaft“ entzogen worden. Letztlich lag es auch daran, dass Hansi Flick in Katar kein Turniertrainer war. So ein Turnier, in dem sich alles extrem verdichtet, verlangt pragmatische Lösungen. Flick hat in Katar sein Ding durchgezogen. Offensiv spielen, hoch attackieren, den Gegner zu Fehlern zwingen.
Eine Endrunde erlaubt kaum Experimente. „Wir haben wenig Zeit gehabt für die Automatismen, aber daran hat es nicht gelegen“, sagte Flick. Doch gerade weil ihm die Zeit fehlte, hätte er die relevanten Personalfragen im Voraus klären müssen: Wer verteidigt neben Rüdiger? Wer soll links und rechts in der Viererkette spielen? Wer ist zweiter Sechser neben Kimmich? Und wer spielt Mittelstürmer?
Stattdessen liefen die Experimente noch während des Turniers. In den drei Spielen bot Flick drei verschiedene Viererketten auf. In den jüngsten zehn Pflichtspielen hat das Team immer mindestens ein Gegentor kassiert.
Im Angriff hielt Flick indes an Thomas Müller fest. Niclas Füllkrug brachte es gegen Costa Rica nach seiner Einwechslung Mitte der zweiten Hälfte auf neun Torschüsse (und ein Tor). Bei Müller wurden drei (und kein Tor) gezählt – im gesamten Turnier. In 17 EM- und WM-Spielen seit dem 7:1 im Halbfinale gegen Brasilien 2014 hat der Münchner kein einziges Turniertor mehr erzielt. Müllers Teamkarriere geht mit einer großen Enttäuschung zu Ende. Jene von Hansi Flick indes beginnt mit einer großen Enttäuschung. „Wer mich kennt, weiß, dass wir das sehr, sehr schnell aufarbeiten und schauen, was die Zukunft betrifft“, sagte Flick. Das immerhin unterscheidet ihn von seinem Vorgänger Joachim Löw. Der hätte jetzt erst einmal ein paar Wochen Pause benötigt.
Stefan Hermanns ist Redakteur des Berliner Tagesspiegel
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