Charkiws verlorene Größe

Charkiws verlorene Größe
Ukraine: Die zweitgrößte Stadt des Landes hat sich für die EM herausgeputzt. Am schweren Alltag der Menschen ändert das kaum etwas.

Es wird gehämmert, gestrichen, gepflanzt. Sogar der einst wild wuchernde Straßenmarkt Barbashowa mit seinem enormen Ausmaß von 50 Hektar am Rande von Charkiw hat zumindest im Kern ein geordnetes Antlitz erhalten. "In den zehn Jahren vor der EM haben wir genau zwei Straßen repariert", sagt Jurij Sidorenko, der Sprecher der Stadt. "Jetzt haben wir 1500 Kilometer neue Straßen."

Charkiw zeigt sich derzeit von seiner Sonnenseite. In einer Woche werden die ersten Fans zur Euro 2012 erwartet. Und Sidorenko ist zuversichtlich, dass alles glatt laufen wird. Allen Boykottaufrufen wegen Julia Timoschenko zum Trotz, die ausgerechnet in Charkiw in Haft sitzt.

Blasmusik tönt vor der Philharmonie. Studenten feiern ihren Uni-Abschluss in blauen und türkisen Roben, werfen Mützen in den blauen Himmel, singen in den Parks. Die Uni ist einen Monat früher als sonst vorbei. Die Studentenheime werden für ausländische Fans gebraucht.

"Charkiw, auf Wiedersehen", sagt ein Student, der eben seinen Abschluss an einer Wirtschaftsuni feiert. Sasha heißt der blasse Bursche mit schütterem Bartwuchs. Er und seine Studienkollegin Sveta werden der Stadt im Osten der Ukraine den Rücken kehren. Erst mal raus, ehe "die ganzen Wahnsinnigen" kommen. Nach den Ferien wollen sie nach Kiew, einen Job suchen – und wenn da nichts läuft, vielleicht weiter nach Westen. Charkiw ist für Sasha nur Karriereplan C.

"Das größte Dorf"

Von 1919 bis 1934 war Charkiw Hauptstadt, als die Sowjets an der Südwestflanke ihre Macht festigten und Kiew nicht trauten. Die zweitgrößte Stadt war Industriemetropole, intellektuelles Zentrum und Universitätsstadt. Heute bezeichnet Sasha sie als das "größte Dorf der Ukraine".

Die Industrie hat zugesperrt, internationale Unternehmen ziehen den Westen oder Kiew als Standorte vor. In der gesamt-ukrainischen Politik hat die Stadt nichts mehr zu melden. Donezk hat Charkiw als führende Stadt im Osten den Rang abgelaufen. Nur die Uni ( 200.000 Studenten) ist noch da. "Geblieben ist uns Metalist Charkiw (die Fußballmannschaft kickte Salzburg aus der Europa-League) und Barbashowa", sagt der Ex-Student.

Einen Ruf als "Polizei-Stadt" hat sich Charkiw seit den 1990er-Jahren gemacht. Kritiker sagen, die Strukturen der Organisierten Kriminalität seien mit denen der Polizei deckungsgleich. In der Stadtverwaltung werde gestohlen, wo immer es nur geht. Und bei der politischen Elite der Stadt handele es sich – wie im gesamten Land – um eine Kaste, die agiere, als säße sie auf einem anderen Planeten. Beamte, die offiziell einige Hundert Dollar verdienen, protzen unverschämt mit 30.000-Dollar-Uhren und tätigen nach Gutdünken Geschäfte wider jedes Gesetz.

Andere sagen, die Polizei arbeite gar nicht so schlecht, wenn auch nicht alles perfekt sei. Und die Stadtverwaltung habe es geschafft, das Zentrum mit den wenigen verbliebenen Jugendstil- und den zahlreichen Stalin-Bauten ansehnlich zu machen.

Sasha meint dazu: "Politik, das ist", es folgt eine sehr, sehr lange Pause, in der er eine halbe Zigarette raucht, "na, Politik eben". Das habe mit dem normalen Leben gar nichts zu tun: "Das normale Leben ist nicht so lustig in Charkiw." Das normale Leben bedeutet für Sasha, mit 22 Jahren zusammen mit Eltern und Schwester in einer Zweizimmerwohnung im siebenten Stock eines Plattenbaus zu leben. Wenn er überhaupt Arbeit in Charkiw fände, könne er mit 300 Dollar monatlich rechnen. Das reicht für die Miete einer spärlichen Wohnung. In Kiew sind es vielleicht 200 Dollar mehr – jedoch sowohl Gehalt als auch Miete. Und so sinniert Sasha: "Vielleicht bleibe ich auch. Kiew ist stressig, Charkiw ist zwar ein großes Dorf – aber eben mein Dorf."

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