Katerstimmung nach dem großen Kick

Ein Jahr nach der WM gibt es leere Stadien, mittelmäßige Legionäre und verschuldete Vereine.

Jose Maria Marin gab im April seinen Job als Präsident des brasilianischen Fußballverbandes ab. "Ich habe mich bis heute nicht erholt. Nicht wegen der verlorenen WM, aber wegen der Art", sagte er der Agentur Estado. Marin meinte die Erinnerung an David Luiz, der weinte wie ein Kind. An Luiz Gustavo, der auf dem Rasen betete. An Deutsche, die sich gar nicht so richtig freuen wollten. Der Stachel vom 1:7 im WM-Semifinale gegen Deutschland sitzt tief.

Aber nicht diese Schmach ist das Problem des brasilianischen Fußballs. Funktionäre wie Jose Maria Marin sind ein Sittenbild. Marin war einer der FIFA-Funktionäre, die im Mai in Zürich kurzfristig festgenommen worden sind. An der Fassade des bisher nach Marin benannten CBF-Sitzes in Rio de Janeiro wurde am Tag danach dessen Namenszug entfernt.

Aber Abmontieren oder Durchstreichen löst die Probleme des brasilianischen Fußballs nicht.

Zuschauerschwund

Sportlich lief es nach der WM nicht schlecht. Die ersten elf Spiele nach dem 1:7 wurden gewonnen. Allerdings konnte die Seleção die WM-Schmach nicht mit dem Gewinn der Südamerikameisterschaft übertünchen – man schied im Viertelfinale im Elferschießen gegen Paraguay aus. Die Bilanz des Nationalteams ist dennoch nicht schlecht.

Aber der Liga-Kick ist ein Jahr nach der WM am Sand. In der abgelaufenen Saison kamen im Schnitt 16.555 Zuschauer zu Partien der Brasileirao, der überregionalen Meisterschaft. 2015 war Vasco da Gama in der Regionalmeisterschaft von Rio de Janeiro erfolgreich, zu den Meisterschaftsspielen (darunter auch gegen Traditionsklubs wie Botafogo, Vasco da Gama, Flamengo und Fluminense) kamen im Schnitt 4442 Zuschauer.

Fußball ist aber nicht billig. 30 bis 50 Euro kosten die Tickets in den WM-Stadien. Die sind aber alles andere als rentabel. Die Betreibergesellschaft des berühmten Maracanã in Rio machte 20 Millionen Euro Schulden. In Manaus kann man das WM-Stadion für Kindergeburtstage und Hochzeiten mieten. In Cuiaba brauchte man das Stadion seit der WM für Flohmärkte und Gottesdienste. In Cuiaba hat man auch schicke Straßenbahngarnituren, aber keine Schienen. Erst eine Station, von geplanten 32, auf dem Weg vom Flughafen zum Stadion ist fertig. Das zur Verfügung gestellte Geld ist aber weg.

Der brasilianische Klubfußball schafft es auch nicht, die besten Spieler in der Liga zu halten. Aber die Zeiten, in denen sich Real Madrid und Barcelona bei Brasilianern überboten wie im Fall von Neymar, sind vorbei. Jetzt locken die Neureichen-Ligen. 66 Legionäre in Chinas höchster Liga kommen aus Brasilien. Guangzhou Evergrande zahlte Anfang des Jahre mit 11,5 Millionen Pfund für Ricardo Goulart chinesischen Ligarekord. Der 23-Jährige ist ein Hoffnungsträger für die WM 2018.

Auch Diego Tardelli, aktuell einer der treffsichersten Angreifer des Nationalteams, spielt jetzt in China, bei Shandong Luneng. Und Everton Ribeiro soll in drei Jahren zu den Stützen der Seleção zählen – er ging zu Al Ahli nach Dubai.

Legionärskrise

Ricardo Rocha wurde 1994 Weltmeister mit Brasilien und ist jetzt Chefkommentator beim Sender Sport TV. In einem Interview mit der Süddeutschen sagte er: "Sportlich bringt das nichts. Die Talente, die unsere jungen Spieler haben, mögen in Europa weiterentwickelt werden. Aber der einzige, der im vergangenen Jahr bei einem großen Klub dort untergekommen ist, war Lucas Silva bei Real Madrid. Es ist wirklich ein Drama. Uns gehen viel zu viele Spieler verloren."

Aber die brasilianischen Profiklubs müssen verkaufen, haben sie ja schon vor der WM über ihre Verhältnisse gelebt. Cruzeiro hat rund 80 Millionen Euro Schulden, davon sind schon die 26 Millionen abgezogen, die der Klub für Goular und Ribeiro bekommen hat. Größter Kreditgeber des brasilianischen Klubfußballs ist die öffentliche Hand. Von den umgerechnet zwei Milliarden Euro Verbindlichkeiten sollen 1,5 Milliarden Schulden von Steuern oder anderen Abgaben sein.

Funktionärskrise

Präsidentin Dilma Rousseff hat den Brasilianern einen Sparkurs verordnet, vor allem die Sozialabgaben gekürzt. Sie kann es sich daher nicht bieten lassen, dass ihr gerade die Klubbosse auf der Nase herumtanzen. Mit einem Gesetzesentwurf sollen die Klubs gezwungen werden, die Gehälter der Profis zu deckeln, mehr in den Nachwuchs zu investieren und vor allem Steuern nachzuzahlen. Das klingt nach einer Kriegserklärung im Reich der Cartolas – so werden die Funktionäre des Verbandes CBF genannt.

Rousseff hat aber ohnehin schon eine generöse Frist in den Entwurf schreiben lassen – 20 Jahre sollen die Vereine Zeit haben, um ihre Finanzen in Ordnung zu bringen. Dennoch sprechen die Funktionäre unter dem neuen CBF-Präsidenten Marco Polo del Nero von staatlicher Intervention – wenn der Staat fordert, dass Steuern bezahlt werden müssen.

Allerdings wächst der Widerstand gegen Funktionäre und Lobbyisten. Die ehemaligen Profis Alex und Dida haben eine Bewegung gegründet, der sie den Namen Bom Senso FC gegeben haben. Der FC Vernunft hat schon rund 100 namhafte Mitglieder und setzt sich nicht nur für Rousseffs Sparpläne ein, sondern will die Trennung von nationaler und regionaler Meisterschaft abschaffen. Mit Beginn der überregionalen Brasileira Mitte Mai ist nämlich für viele Profis die Zeit der Arbeitslosigkeit angebrochen.

Es gab nichts zu beanstanden. Nicht viel zumindest. Brasilien war ein guter Gastgeber der Weltmeisterschaft 2014.

Die Menschen haben sich zurückgehalten mit öffentlichen Protesten, die vor dem Turnier von internationalen Medien als alles überschwappender Demonstrations-Tsunami angekündigt worden waren. Es überwog der Respekt. Für die WM-Touristen. Für den Fußball sowieso. Selbst nach dem 1:7-Desaster gegen Deutschland beschränkte sich Brasilien auf sympathisch zu Schau gestellte Traurigkeit.

Umso mehr schmerzt auch noch ein Jahr danach, dass ein ganzes Volk verschaukelt worden war. Von den eigenen Politikern. Vom internationalen Fußballverband FIFA.

Die Ausrichtung der WM hat kurzfristig für Einnahmen gesorgt. Und wie war das mit der Nachhaltigkeit? Die blieb. Allerdings nur ein besonders beliebtes Schlagwort. Keine Spur vom wirtschaftlichen Aufschwung, von der versprochenen Verbesserung der Infrastruktur. Im Gegenteil, Brasiliens Steuerzahler muss nachsitzen, zahlt für Stadien, die nicht gebraucht werden, aber dafür in ihrer Kostspieligkeit nicht zu übertreffen waren. Aber warum wundern, Südafrika ging mit schlechtem Beispiel voran.

Aber alles ist gut, die FIFA hat 2,3 Milliarden Euro Gewinn aus Brasilien mit genommen. Eine Summe, die sich in Russland 2018 und erst recht in Katar 2022 noch erheblich vermehren wird.

Aber danach wird man wieder da sein für die Menschen, denen der Fußball irgendwann einmal gehört hat.

Versprochen.

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