Revanche für 2014: Brasilien fährt verwandelt nach Russland
Im Stadion von Mineirão, Schauplatz des 1:7 gegen Deutschland bei der Heim-WM vor vier Jahren, kam es vor kurzem zu einer Art Vergangenheitsbewältigung: Das Tornetz, in das Deutschland in der ersten Halbzeit fünf Treffer gelegt hatte, wurde in 8150 Stücke zerteilt. Jedes ist zum an das Ergebnis angelehnten Preis von 71 Euro zu kaufen. Ziel der Aktion ist es, 500.000 Euro für wohltätige Zwecke zu sammeln – und die bösen Erinnerungen von damals in etwas Positives umzuwandeln.
Umwandlung ist generell ein Zauberwort, dem sich der brasilianische Fußball nach dem Debakel verschrieben hat. Nur fünf Spieler, die vor vier Jahren im WM-Kader standen, sind auch in Russland mit von der Partie. Noch wichtiger war aber vielleicht der Wechsel auf dem Trainerposten. Der Teamchef Adenor Leonardo Bachi, genannt Tite, ist seit 2016 im Amt und hat aus dem taktisch oft undisziplinierten brasilianischen Team eine kompakte Einheit geformt.
Überzeugter Europäer
Tite hat sich in Brasilien vor allem als Trainer von Corinthians einen Namen gemacht. Mit dem Verein aus São Paolo gewann er zwei Meisterschaften und holte 2012 im Finale gegen Chelsea den Weltpokal. Tite gilt als Verfechter der europäischen Spielweise. Er führte bei der Seleção ein flexibleres 4-3-3 ein und verabschiedete sich damit von der langjährigen Tradition der Doppelsechs. Die Systemumstellung ging auf: Brasilien war das erste Team, das sich für Russland qualifiziert hat. In den vergangenen zwanzig Partien kassierten die Südamerikaner nur fünf Gegentore.
Die neugewonnene Kompaktheit bemerkte auch der ehemalige Argentinien-Teamchef César Luis Menotti. Nach dem 3:0 Brasiliens über Argentinien kurz nach Tites Amtsantritt meinte er: „Sie verteidigen jetzt zwanzig Meter höher und stehen enger zusammen. Es ist wie das Brasilien von 1970.“ Den 2014 noch brüchigen Teamgeist stärkte Tite durch eine Maßnahme, auf die er schon bei Corinthians zurückgegriffen hatte: Er ernennt in jeder Partie einen anderen Kapitän. Nicht aus reiner Nettigkeit, wie er betont: „Jeder Spieler hat eine unterschiedliche Art von Führungsstärke – technisch, taktisch oder durch sein Auftreten. Ich will die Spieler ermutigen, ihre eigene Stärke zu zeigen.“
Weniger ist mehr
Gegen Österreich könnte der Kapitän Neymar heißen. Der PSG-Star wird am Sonntag sein Startelf-Comeback geben und ist einer der fünf Spieler, die 2014 dabei waren. Er ist nach wie vor der große Hoffnungsträger. Die „Neymardepedencia“, wie die Abhängigkeit der Seleção von ihm in Brasilien genannt wird, ist aber geringer als noch vor vier Jahren.
Zu viel Qualität hat der Kader seitdem dazugewonnen. Statt des unbeliebten Fred, der beim 1:7 bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen wurde, hat Tite die Wahl zwischen dem Liverpooler Firmino und Manchester-City-Angreifer Gabriel Jesus. Dahinter zieht Coutinho (Tite: „Es gibt einen Grund, warum ihn die Leute ,Zauberer‘ nennen“) die Fäden. Das nimmt auch den Druck von Neymar.
Die Erwartungen in Brasilien sind wie immer riesig. Anspruch und Wirklichkeit liegen aber nicht mehr so weit auseinander wie 2014. Durch die Umwandlung zählt Brasilien in Russland wieder zu den Top-Favoriten.
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