Der Radsport entdeckt die Langsamkeit

Sind doch alles Doper, die Radfahrer. Der Blick auf die Fakten deutet auf das Gegenteil hin.

Die Pyrenäen hat die 100. Tour de France längst hinter sich gelassen, am Sonntag biegt die Jubiläumsausgabe der Grande Boucle in die Provence ein. Und sie hat am Ende einer Monster-Etappe (242,5 Kilometer!) ein Monster von Berg zum Ziel: den Mont Ventoux, diese 1912 Meter hohe Kalkschotterwüste über den Lavendelfeldern. Um die 35 Grad werden am französischen Nationalfeiertag erwartet, die Prüfung wird wieder einmal so, wie sie meistens ist: brutal.

Der Brite Tom Simpson fiel 1967 wegen einer Mischung aus Dehydrierung, Aufputschmitteln und Alkohol knapp vor dem Gipfel vom Rad und starb wenig später. Und drei Jahre später hat die Kletterei oberhalb der Baumgrenze selbst den großen Belgier Eddy Merckx in die Knie gezwungen, er erlitt einen Schwächeanfall und musste im Ziel an die Sauerstoffflasche gehängt werden.

Größenwahn

Noch immer sterben Jahr für Jahr Menschen am Mont Ventoux, zwischen zehn und 20 Hobbyradler überschätzen ihre Fähigkeiten. Nicht nur, aber auch deshalb ist der Ventoux längst eine Tour-Legende, obwohl er bisher erst acht Mal Etappenziel war und sechs Mal überquert wurde.

Von Süden – so wird auch heuer gefahren – ist der Gesamtanstieg 21 Kilometer lang und umfasst 1535 Meter Höhendifferenz, durchschnittlich geht es 7,1 Prozent steil den Berg hinauf, allerdings auch mit bis zu elf Prozent. Die steilste Passage sind die letzten beiden Kilometer, wo kein Baum mehr Schatten spendet und die Sonne den Körper ausdörrt.

Die Bestzeit auf den letzten 16 Kilometern ab St. Estève (1383 Meter Höhenunterschied), wo die offizielle Auffahrtszeit ermittelt wird, hält seit 1994 der Italiener Marco Pantani, der exakt 46 Minuten unterwegs war.

24 war der Italiener damals, jung für einen Kletterer, und er sollte in jenem Jahr seine Sonderstellung auch am Legendärsten aller Tour-Anstiege unter Beweis stellen: auf den 13,8 Kilometern von Bourg d’Oison hinauf nach Alpe d’Huez. Seine 37:15 Minuten wurden später nur zwei Mal unterboten – von Marco Pantani selbst. 1995, als die Hochblüte des EPO-Dopings erst ihren Anfang nahm, war er um 25 Sekunden schneller, zwei Jahre später war Pantani 36:55 Minuten unterwegs.

Nur einer kam noch einmal an seine Leistungen heran: Lance Armstrong, der Amerikaner, der herausragende körperliche Fähigkeiten mit herausragenden organisatorischen verband, zum vermeintlich größten Helden des Radsports aufstieg und als vermeintlich größter Betrüger vom Sockel gestoßen wurde. 2004 fehlten ihm 46 Sekunden auf Pantanis Bestleistung, allerdings in einem reinen Bergzeitfahren. Pantani war seinerzeit zuvor 140 bis 210 Kilometer unterwegs gewesen ...

Beide sind längst Geschichte. Marco Pantani, der während seiner Karriere ein Mal mit EPO im Körper und ein Mal mit einer Insulinspritze im Gepäck erwischt wurde, starb am 14. Februar 2004 34-jährig in einem Hotelzimmer in Rimini, laut Autopsiebericht an einer Überdosis Kokain. Lance Armstrong wurden die Erfolg aberkannt.

Bescheidenheit

Was bleibt von Pantani, sind vor allem ungeheuerliche Werte: Pro Kilo Körpergewicht stampfte der 1,72 Meter kleine und 54 Kilo leichte Italiener 1998 den Anstieg in die italienische Skistation Piancavallo durchschnittlich mit 7,05 Watt hinauf. Zum Vergleich: Tour-Leader Chris Froome (1,86 Meter/69 Kilo), von Sportwissenschaftler Antoine Vayer in Le Monde diese Woche als „Mutant“ bezeichnet, kam letzten Samstag nach Ax-3-Domaines auf 6,37 W/kg.

Ob der Radsport seit Pantani, Armstrong, Mayo und den anderen sauberer geworden ist – man wird es wohl nie erfahren. Aber der Vergleich liefert Indizien: Die letzte Auffahrt nach Alpe d’Huez vor zwei Jahren absolvierte der Spanier Samuel Sanchez als Schnellster – in 41:26 Minuten (5,78 W/kg).

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