100 Marathons als Ziel

Jeff Mangione
Manche sammeln Marathons wie andere Siege beim Preisschnapsen. Der Rekordhalter kommt auf 490 Stück.

Es sind etwa 50.000 Schritte, die sich Hobbyläufer über die klassische Marathondistanz von 42,195 Kilometer quälen. Im Ziel regieren Erschöpfung, Erleichterung und die breite Brust. Jeder Läufer kennt den Schmerz und das belohnende Adrenalin. Viele wollen es nur einmal schaffen, manche bleiben in Form und schinden sich weiter. Wer aber Marathons sammelt wie andere Pokale beim Preiskegeln, gehört zu einem eigenen, elitären Club.

Grenzen ausloten

Das KURIER-Team traf sieben Lauf-Süchtige auf der Prater-Hauptallee (Porträts: siehe unten). Wie diese Extremisten ticken, erklärt der Steirer Helmut Linzbichler, 72. Mit 279 Marathons unter den Schuhsohlen oder 217 Kilometer ohne Pause bei über 50 Grad durch das kochende Death Valley, zählt er zu den Legenden in der elitären Gesellschaft: „Ich persönlich habe immer die Grenzen ausloten wollen. Als ich meine erste 42,195-Kilometer-Distanz bewältigt hatte, war das nächste Ziel, 100 Kilometer in einem Stück zu laufen.“

Das reichte aber immer noch nicht. Zu seinem 60er schnürte Linzbichler in Kapfenberg die Laufschuhe und trabte 145 Kilometer locker nach Wien. Unmittelbar darauf nahm er am Wien-Marathon teil. Vor zwölf Jahren eine Sensation. „Ich hab’ in meinem Leben nie Ruhe geben können“, erklärt die steirische Laufmaschine seine Passion (weitere Details siehe unten).

Im Juni 2012 gründete der in Wien lebende Osttiroler Anton Reiter den „100 Marathon Club Austria“. „Von den gegenwärtig 19 Mitgliedern haben zwölf zum Teil deutlich mehr als 100 Marathons bestritten. Unser Rekordhalter ist Gerhard Wally mit derzeit 490 Zielankünften“, spricht Reiter – selbst bereits 130 Marathons in den Beinen – von läuferischen Gewaltakten. Nachsatz: „Ich selbst laufe mehrere Events im Jahr. Netter Nebeneffekt ist das Reisen. Meine Kollegen und ich sehen durch den Sport die ganzen Welt.“ Reiters Rekordjahr war 2012: Er spulte 26 Marathons (inklusive vier Ultra-Läufe über 50 Kilometer) herunter.

Bleibt die Frage nach der Gesundheit. Sportmediziner empfehlen trainierten Sportlern maximal vier Marathons im Jahr. Solche Hinweise sind im Hunderter-Club kein Thema. Alle sieben Sportler blieben trotz Dauerbelastung von schweren Verletzungen verschont. Haudegen Linzbichler analysiert schmunzelnd: „Wahrscheinlich war’s nicht immer g’sund, aber geschadet hat es auch nicht.“

Mehr zum Wien-Marathon

Der Novize: Mit 60 begann das Lauffieber

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Jeff Mangione
Josef Stöger, 63, ist das „jüngste“ Mitglied der Marathon-Sammler. 2010 riskierte er seinen ersten Marathon: „Seitdem ist Laufen in meinem Kopf, obwohl ich den Großteil der 42-Kilometer-Distanz eigentlich gegangen bin.“ 15 Marathons hat der beinahe schüchtern wirkende Hobbysportler in drei Jahren absolviert. 2012 fühlte sich der Sepp bärenstark und nahm drei Bewerbe und vier Ultras (mehr als 50 Kilometer) unter die Laufsohlen. Seitdem visiert er augenzwinkernd ein ehrgeiziges Ziel an: „Zu meinem 100. Geburtstag laufe ich meinen 100. Marathon.“

Der Hungrige: Fastenkur und Kilometerfresser

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Jeff Mangione
Lehrer Michael Dorfstätter, 50, genoss Speis und Trank in vollen Zügen. Ich hatte satte 95 Kilo. Dann kam die Fastenkur. Um wieder in Form zu kommen begann ich 1995 zu laufen. Heute, konstant um 25 Kilo leichter, absolvierte er seitdem 159 Marathon-Distanzen: „Zehn bis zwölf Läufe pro Jahr sind normal. Es ist zur Sucht, zur angenehmen Sucht geworden. Beim Laufen reize ich das Leben aus.“ Dorfstätter kann leider den Wien-Marathon nicht genießen: „Als Rot-Kreuz-Mitarbeiter nehme ich an einem Friedenslauf in Rumänien teil. Wir übergeben dabei Hilfsgüter für Kinder.“

Der Extremist: Vom Everest zum Marathon

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Jeff Mangione
Die Bilanz von Helmut Linzbichler,72, kratzt ein bisschen am Irrsinn: 279 Marathons, Nord- und Südpol abgelaufen, in 50 US-Staaten die 42,195-Kilometer-Distanz absolviert oder in 64 Tagen von Los Angeles nach New York gelaufen. Bei seinem gewagtesten Unternehmen änderte sich aber seine Einstellung. 2008 bestieg der Kapfenberger den Mount Everest. Im Basislager zurück, regenerierte er wenige Tage, um sofort den Tenzing-Hillary-Marathon in 5364 Metern Höhe zu wagen: „Das war grenzwertig. Wahrscheinlich war’s nicht gesund. Seitdem bin ich ein bisschen ruhiger.“

Der Eiserne: Meniskuseinriss einfach ignoriert

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Jeff Mangione
Wie kommt man mit 58 Jahren auf 130 Marathons? Indem man einen Meniskuseinriss verharmlost und zielorientiert sechs Mal – trotz Verletzung – an den Start geht. Anton Reiter ist ehrgeizig: „Die Verletzung hat mich beim Lauf-Sammeln ein wenig gebremst. “ Heuer will er seine Marke auf 150 Läufe schrauben. Aber auch Profis sind vor Hoppalas nicht gefeit: „Eigentlich hätte ich 131 Marathons. In Bratislava stellte ich mich unbewusst zu den Halb-Marathonis. Vor dem Ziel wurden alle schneller.Da hab’ ich es gemerkt. Ein Weiterlaufen war unmöglich. Den Lauf vergesse ich nie.“

Der Stratege: Das Jubiläum in Wien gelaufen

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Jeff Mangione
Berhard Bruckner, 46, wollte zu seinem Hunderter unbedingt in Wien durchs Ziel: „Das habe ich lange geplant und bei strahlendem Sonnenschein mit einer Durchschnittszeit auch geschafft. Das Jubiläum war ein echtes Heimspiel.“ Heute wartet die nächste Party. Denn der Volkstheaters-Mitarbeiter hat jeden der 29 Wien-Marathons absolviert: „Wenn ich laufen gehe, freue ich mich extrem auf die Bewegung.“ Und Bruckner bewegte sich bis dato sehr intensiv: 103 Marathons und 25 Ultra-Läufe stehen auf der Haben-Seite. Nur in Afrika und Australien ist er noch nicht gelaufen.

Der Überzeugte: Marathon prägt sein Leben

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Jeff Mangione
Der Wiener Sportmanager, Michael Reichetzeder,56, ist ein Mensch von schnellen Entscheidungen. 1984 , beim ersten Wien-Marathon ging er mit seinen beiden Brüdern „einfach so“ an den Start: „Erst am Freitag vor dem Rennen haben wir unsere ersten Laufschuhe gekauft. Vorher trainierten wir mit Tennisschuhen.“ Seitdem absolvierte er alle 29 Wien-Läufe und insgesamt 36 Marathon-Distanzen. Bemerkenswert: Auf seinem Konto stehen auch 22 Ultra-Marathons: „Diese langen Distanzen, die verschiedenen Stimmungen beim Laufen und die Atmosphäre haben mein Leben geprägt.“

Die Ehrgeizige: Zum Fünfziger 100 Marathons

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Jeff Mangione
Heuer will Helena Barcot,44, noch sieben bis acht 42,195-Kilometer-Läufe bewältigen. Denn die gebürtige Belgraderin spielt nicht nur Orgel und Piano, sondern hat auch ein ehrgeiziges Ziel: „Zu meinem 50. Geburtstag will ich in den Klub der Hunderter.“ 1999 hat sie mit dem Marathon-Sammeln begonnen und bis heute 27 Rennen bestritten. Warum aber diese Schinderei? „Ich war immer fit und wollte plötzlich mehr Bewegung als Radlfahren oder Schwimmen. Da hab’ ich es mit dem Laufen probiert. Diese Entscheidung war absolut richtig. Ich denke jetzt schon an den Bewerb nach Wien.“

Ein Marathon stellt für den Körper eine extreme Belastung dar (siehe Grafik). „Untrainiert würde ich niemandem einen Marathon empfehlen. Eine kontinuierliche Vorbereitung über sechs Monate mit drei bis vier Trainingseinheiten sehe ich als Minimum“, sagt der Arzt Robert Fritz – er betreut den Vienna City Marathon mit Christian Gäbler medizinisch.

„Ein gut trainiertes Herz erholt sich nach ein bis zwei Tagen ohne bleibende Schäden von der Belastung eines Marathons“, sagt Fritz. Dies untermauern Ergebnisse einer Studie von Kardiologen an der Universität von Manitoba. Zwar zeigten sich nach einem Marathon bei den Langstreckenläufern auffällige Veränderungen der Herztätigkeit in der Entspannungsphase und eine geringere Pumpfunktion. Nach einigen Wochen waren die Veränderungen nicht mehr feststellbar. Für dauerhafte Schäden fanden die Forscher keine Hinweise. Riskant wird es, wenn Marathonläufer zu Schmerzmitteln greifen. Eine Studie im Zuge des Bonn-Marathons zeigte, dass Anwender von Schmerzmitteln zwei bis sechs Mal häufiger an Kreislaufversagen, Erbrechen und blutigen Durchfällen leiden. „Die Nieren oder der Magen-Darm Trakt sind während der Anstrengung schlechter durchblutet, entsprechend schlechter kann auch das Medikament vertragen und abgebaut werden“, sagt Schmerzmediziner Hans-Georg Kress.

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