Otto Schenk: "Ich konnte perfekt einen Nazi spielen"
KURIER: Sie sind schon als Kind gerne in Rollen geschlüpft?
Otto Schenk: Ich war immer gern ein anderer. Ich hab’ auch Stimmen nachgemacht, fast erforscht. Es war nicht so ein blödsinniges Imitieren, sondern ein Identifizieren – automatisch. Ich hab immer beobachtet. Ich hab’ geschnüffelt nach anderen. Ich konnte erraten, welche Tante grad zu Besuch ist – am Geruch. Damals haben die Damen sich ja sehr intensiv parfümiert, was mir auch schon als Kind auf die Nerven gegangen ist. Ich konnte überparfümierte Tanten schwer küssen. Ich war eigentlich immer Theater. Ich war Theater, bevor ich überhaupt wusste, was Theater ist. Das Theater aber war mir in der Kindheit widerlich. Ich bin schreiend aus dem Burgtheater nach gewissen Vorstellungen, in die mich meine Eltern aus erzieherischen Gründen hineingeführt haben.
Was hat Sie abgeschreckt?
Dass man etwas gezeigt kriegt, was man gar nicht sehen wollte. Schon der Geruch des Theaters war mir, dem Witterer, unangenehm. Die Loge, in die ich als Kind geführt wurde, war eine Art Gefängnis. Ich konnte nicht aus. Und das laute Reden der Schauspieler! Das stört mich auch heute noch. Und dass ich nix verstanden hab, weil die so eine seltsame, andere Sprache gesprochen haben. Erst durch die Dialektkomiker bin ich für das Theater gewonnen worden. In "Peterchens Mondfahrt" war der Ferdinand Maierhofer der Maikäfer Sumsemann. Er ist geflogen gekommen. Das hat mich noch gestört. Aber dann wurde er gefragt: "Maikäferchen, was willst du?" – Und er hat g’sagt: "An Schwarzen." (Kaffee, Anm.) Das hat mir sehr imponiert, dass der Maikäfer das Theater nicht mitspielt.
Wen haben Sie imitiert? Die Tanten und Onkeln?
Die Schauspieler: den Hans Moser, den Heinz Rühmann, den Theo Lingen. Und den Hitler natürlich – im verlässlichen, familiären Kreis. Mein Freund Georgie Zimmermann und ich haben uns ein paar Hitler aus Elastolin gekauft. Die Figuren hatten einen beweglichen Arm, dem man zum Gruß heben konnte. Wir haben so lange mit dem Luftdruckgewehr auf sie geschossen, bis sie zerbröselt waren. Das war eine Form unseres armseligen Widerstands.
Ihre Familie hatte es ja nicht leicht in der NS-Zeit.
Wir waren Verfolgte, Gezeichnete. Man entdeckte in unseren Stammbäumen jüdische Großeltern, vier bei meinem Vater, zwei bei mir. Mein Vater war Jurist, katholisch getauft, religiös uninteressiert, liberal bis in die Knochen. Er hat die Emigration abgelehnt. Mein Vater hat g’sagt: "Der Hitler kann sich nicht halten, wir stehen das durch, ich werde schon irgendwas hintenherum verdienen. Im Ausland wär ich ein Bettler – und als Jurist unverwendbar. Auch haben wir eine alte Mutter, die vielleicht nicht mehr Fuß fassen könnte." Das war vielleicht die falsche Entscheidung. Denn sie wurde umgebracht – mit 92 Jahren verschleppt. Und der Lieblingsbruder meines Vaters auch. Die beiden haben wir nie wieder gesehen.
Sie waren 1938, als Hitler einmarschierte, noch nicht einmal acht Jahre alt. Haben Sie …
… alles mitgekriegt! Ich hab immer gesagt bekommen: "Aus Auschwitz kommt man nicht lebend heraus. Das ist eine Endstation." Dass man dort vergast wird, hat man nicht gewusst. Aber dass man zu Tode gequält wird: Das hat man schon geglaubt. Ich konnte perfekt einen Nazi spielen. Und das musste ich ja auch – zum Schutz meines Vaters. Ich war befreundet mit Nazi-Buben. Die wussten, dass ich "Halbjude" war. Sie hatten mich trotzdem lieb. Das war damals ein großes Geschenk.
Sie haben Ihren Freund als "Scheißnazi" beschimpft – und er Sie als "Saujud".
Das waren unsere Kosenamen. "Saujud" zu sagen war opportun, "Scheißnazi" zu sagen allerdings lebensgefährlich. Ein Witz auf den heiligen Führer war todeswürdig. Für uns Buben vielleicht nicht, aber für unsere Eltern. Das Hören eines Feindsenders stand unter Todesstrafe. Mit der Todesstrafe wurde nur so herumgeschmissen. Und da hat man versucht, sich durchzulavieren. Man hat Freunde gesucht, die nicht so fanatisch waren. Da gab es lange Abtastungen. Und man hat fast Bruderschaft getrunken, wenn man sich gestanden hatte, dass man dagegen ist. Über meinen Vater lernte ich einen wunderbar komischen Menschen kennen, den Erich Meder. Er war verbandelt mit Fritz Grünbaum und Karl Farkas, ein Urkabarettist. Er hat mir meine jüdischen Witze beigebracht.
In der Nazizeit?
Er war als Wienerlied-Schreiber sehr geschätzt! Das Wienerische wurde hochgehalten. Das war eine Form des erlaubten Widerstandes. Österreich gab es nicht mehr, das war die Ostmark, aber Wienerisch gab es weiterhin. Als katholisch erzogener Bursche einer Triestiner Mutter habe ich mich plötzlich für das Jüdische interessiert und die Meisterwerke studiert. "Hoffmanns Erzählungen" war eine Hymne. Ich habe Heinrich Heine gelesen und Stefan Zweig. Ein Onkel, ein "Arier", spielte mir Mahler-Symphonien am Klavier vor. Ich bekam eine Sehnsucht nach den Genies, ich entwickelte eine Beziehung zu dem, was verboten war.
Die Umstände aber wurden schwieriger, der Krieg tobte.
Es wurde schwieriger. Mein Vater stand auch schon fast auf einer Liste deren, die deportiert werden sollten. Aber die Bomben waren für alle. Daher schwand das Mitleid der Leut’ für die Juden. "Wir sind ja noch ärmer dran", haben sie g’sagt. "Die Juden sind wenigstens in einem Lager. Unsre Buam aber sind in Russland." Dass man aus dem Lager nicht mehr rauskommt, dass das der Vorhof zur Ermordung ist: Das haben die ja nicht geglaubt.
Im Luftschutzkeller fungierten Sie als Unterhalter?
Im Luftschutzkeller saß ich einer judenvertreibenden, schweren Nationalsozialistin gegenüber, die das Parteiabzeichen gleich doppelt trug: am Mantel und am Kleid. Sie hatte ein entzückendes Kind am Schoss. Ich begann mit dem Kind zu blödeln. Auch die Mutter ist ein bissl geschmolzen. Und plötzlich war nicht so wichtig, dass ich ein Halbjud’ war.
Sie spielten mit Freunden "Winnetou" von Karl May nach?
Ja, im Zimmer. Man musste erklären, wenn man auf den Kasten kletterte: "Ich steig auf den Felsen. Und jetzt seh ich da unten den Silbersee." Dann wurde eine Schlacht inszeniert: "Ich geb dir jetzt den Fausthieb." Und der andere ist umg’fallen, ohne dass man hing’haut hat. Das war episches Theater. Nach dem Krieg hat das aufgehört.
Sie wussten schon während der NS-Zeit, dass Sie zum Theater gehen wollen?
Nein. Das wäre auch unmöglich gewesen. Aber danach hat mich ein Professor, Neumeier hieß er, ein prägender Mann in meinem Leben, zum Theater der Jugend gebracht. Dort hab ich meine ersten Rollen gespielt. Er glaubte an meine theatralische Sendung – noch lange vor mir. Und dann hat mich ein Mädchen, mit dem ich damals zusammen war, die Maria Urban, zur Aufnahmsprüfung am Reinhardt Seminar verführt. Ich hab den Zettel (aus dem "Sommernachtstraum", Anm.) vorgetragen. Da war die Helene Thimig, der Fred Liewehr, der Alfred Neugebauer und der Heinz Schulbaur, ein ganz strenger Professor: Eine Kommission, die man sich ärger an Kennern und Könnern nicht vorstellen kann. Und die haben so g’lacht! Und danach applaudiert! Ich hatte Tränen in den Augen. Denn ich war Applaus ja nicht gewöhnt. Das war das größte Erfolgserlebnis meiner gesamten Karriere. Das war wie ein Segen: Man gehört jetzt zum Theater. Meine Freundin Maria Urban kam Gott sei Dank auch durch.
Am Seminar lernten Sie Ihre Frau Renée Michaelis kennen.
Ich war verliebt in sie – erfolglos. Sie hat mich verabscheut, weil ich ein extrovertierter Angeber war. Ich hab ununterbrochen geblödelt. Ich spielte zum Beispiel einen Affenforscher, der immer mehr zum Affen wird. Als dieser Affe bin ich dann an der Hand des Rudi Melichar auf der Straße herumgegangen. Das war ihr peinlich. Erst später haben wir uns neu kennengelernt, bei sehr ernsten Gesprächen. Sie war in einem labilen Zustand, weil ihr Vater nach einem Selbstmordversuch gestorben war. Wir haben tagelang miteinander gesprochen. Und dieses Gespräch hat bis heute nicht aufgehört.
Ende August werden Sie 60 Jahre verheiratet sein.
Davor waren wir zwei Jahre miteinander verbandelt. Also 62 Jahre Liebe und davon 60 Jahre Ehe.
Die Hochzeit fand nur zu viert mit den Trauzeugen statt?
Wir haben das als Vertrag gesehen. Meine Eltern waren zuerst dagegen. Mein Vater hat befürchtet, dass ich meiner Frau kein anständiges Leben bieten kann. Ich hab g’sagt: "Papa, es geht sich aus!" Ich hab dann auch mit den Nebenverdiensten begonnen. Ich leb eigentlich auch heute von den Nebenverdiensten. Schon die Operninszenierungen waren ein Nebenverdienst.
Und dann kamen die Bücher.
Das nächste ist ein Stichwortbuch. Die Brigitte Sinhuber kommt zu jeder Sitzung mit ein paar Stichworten. Und mir fällt was dazu ein.
Was für Stichworte?
Das absolute Gehör, Briefe, Konzentration, Kostüm, Shakespeare, Aufklärung, Barockopern, Stehplatzpublikum – ganz durcheinander. Es wird rechtzeitig für Weihnachten herauskommen. "Ich kann’s nicht lassen": Das ist der Arbeitstitel.
Sie waren zuerst am Volkstheater engagiert, Ihre Heimat aber wurde die Josefstadt.
Als ich in die Josefstadt kam, war es unmöglich, auf der Bühne einen unnatürlichen Satz zu sprechen. Die Partner waren – wie die Löwen – auf Natürlichkeit ausgerichtet. Die Adrienne Gessner war die Päpstin der Natürlichkeit. Die Natürlichkeit war immer meine Sehnsucht. Am Volkstheater war die Natürlichkeit nicht zuhause – allein schon wegen der Größe des Hauses. Ich war am Volkstheater zwei Jahre unglücklich, vom Leon Epp (Direktor 1952–1968, Anm.) nicht so geschätzt. In der Josefstadt war ich sofort zu Haus.
Ans Burgtheater wollten Sie nicht?
Ich hab an der Burg acht Inszenierungen gemacht – "Dantons Tod", "Don Karlos", "Peer Gynt", "Geschichten aus dem Wiener Wald". Aber ich war immer Josefstädter.
Und Sie spielen weiterhin.
So lange was von mir verlangt wird, liefere ich. Und so lange was verlangt wird, hab ich das Gefühl, dass ich lebe. Mein Talent gehört nicht mir, sondern denen, die es mögen. So lange es genügend Menschen gibt, die es mögen, hat man die Pflicht, auf die Bühne zu kriechen. Und wenn das Gekrieche peinlich wird, muss man im richtigen Moment wegkriechen.
Viele Ihrer Weggefährten sind bereits gestorben.
Das ist das Fürchterlichste! Ich war immer abhängig von Partnern. Ich hätte allein nicht reüssieren können. So wie meine Ehe eine Partnerschaft ist, hab ich auch im Theater immer Partner gesucht. Fredi Böhm zum Beispiel war ein Partner ungeheurer Art: Wir haben immer versucht, einander zu übertreffen an Blödheit und Natürlichkeit und Verzagtheit und all dem, was zur Komödie gehört. Oder Helmuth Lohner: Ein halbes Leben wurde mir mit seinem Tod aus dem Herzen gerissen. Mit ihm war es nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Leben ein ständiges Theatern. Wir haben eigentlich immer miteinander gespielt.
Aber jetzt treten Sie mit Michael Niavarani auf.
Ich empfinde es als Gnade, dass ich wieder einen Partner gefunden hab. Wir setzen uns in seinem Theater (dem Globe, Anm.) auf die Bühne. Und 1080 Leute hören uns eineinhalb Stunden zu. Der Niavarani zieht mir Würmer aus der Nase – von einer Größe, die ich meiner Nase nicht zugetraut hätte.
So wird immer wieder etwas von Ihnen gefordert.
Noch! Man kann noch gehen, man hat noch ein paar Zähne: "Noch" ist das große traurige Wort im Altwerden.
Haben Sie "noch" Wünsche oder Wunschrollen?
Die anderen müssen sich was wünschen von mir. Ich hab mir nie eine Rolle gewünscht, nie ein Stück. Wenn ein Direktor zu mir g’sagt hat: "Sie können bei mir alles spielen!" – dann bin ich schon nach Haus g’angen. Denn alles kann ich nicht spielen. Ich muss immer überzeugt und verführt werden – zu fast jeder Arbeit.
Und jetzt bekommen Sie für Ihr Lebenswerk die ROMY in Platin.
Das freut einen. Wenn eine Jury findet, dass mein Leben was wert war: Da sag ich dann auch nicht Nein.
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