Hamburg: Hering trifft Hochkultur
Rutschbahn. Durchschnitt. Mümmelmannsberg. Hühnerposten. Oder: Zweiter Fersenweg. Bienenbusch. Lampenland. Alles klar? Wenn nicht, auch okay. Nicht grundlos gilt Hamburg als die Stadt mit den wenn nicht seltsamsten, so zumindest überaus skurrilen Straßennamen. Dass sich darunter mit der Reeperbahn auch Deutschlands bekannteste Straße befindet, muss eigentlich nicht extra erwähnt werden.
Gemma "Elphie" schauen
Die magische Meile im Herzen von St. Pauli hat schon bessere Zeiten gesehen. Und schlechtere ebenso. Egal, die Hafenstadt kennt mit der Musical-Insel und der eben eröffneten Elbphilharmonie ohnehin längst andere Aushängeschilder.
Mehr noch. Mit "Elphie" gibt es nun eine echte Sensation. Hering trifft Hochkultur. Das gab es zu Freddy Quinns Zeiten nicht. "Elphie"? Ja, das ultramoderne Jahrhunderthaus, das den eher zurückhaltenden Hanseaten durch etliche Bauverzögerungen und die Verzehnfachung der ursprünglichen Baukosten schon viel Frust beschert hat, wird bereits jetzt vom Volksmund zärtlich liebkost. Mit 110 Meter Höhe ragt der silberblau schimmernde Kulturtempel direkt aus den Fluten der Elbe heraus. Und das ist tatsächlich eine Sensation. Kein anderer Konzertsaal wurde direkt auf einem ehemaligen Kakao-, Tee- und Tabak-Speicher errichtet.
Kulturtempel mit 110 Meter Höhe
Noch dazu schaut "Elphie" todschick aus. Eine Fassade wie aus einem Science-fiction-Film sowie ein akustisches Innenleben, das jene Glücklichen, die vergangenen Mittwoch die feierliche Eröffnung erleben durften, jubilieren ließ. In höchsten Tönen, versteht sich. Da nehmen die Hanseaten gerne in Kauf, dass sie wegen der hochtrabenden Pläne des Architekturbüros Herzog & de Meuron in den letzten Jahren mitleidig belächelt wurden.
Aber der Beweis macht sicher. "Die Berliner warten noch immer auf die Eröffnung ihres neuen Flughafens", wirft Heike, eine fast waschechte Hanseatin, ein. Und tags darauf bohrt der Tourguide des Roten Doppeldeckerbusses just vor dem Hamburger Hauptbahnhof in die Wunde Stuttgarts: "Beim Projekt Stuttgart 21 ist nach wie vor kein Ende abzusehen."
Beim Anstieg der Immobilienpreise in der Hafenstadt ebenfalls nicht. Und die hat sich mit den feinen Wohngegenden Blankenese, Eppendorf und Uhlenhorst sowieso längst in eine Stadt mit Hafen verwandelt. Am Alsterufer Richtung Stadtteil Uhlenhorst flötet der Guide schnoddrig ins Mikrofon, dass noch höhere Preise drin sind: Weil Hamburg mit "Elphie" eben Boomtown ist. Alle, wirklich a-l-l-e, die über dicke Konten verfügen, halten hier Ausschau nach Zweit- oder Drittwohnsitzen. Die Villen mit den penibel gepflegten Rasenflächen haben dem Viertel den Beinamen "Beverly Hills von Hamburg" eingebracht.
Wer hier wohnt, hat klug geheiratet oder auch nicht schlecht geerbt. Oder er oder sie versucht, seinen Besitz richtiggehend zu vergolden. Nach sechzehn Jahren an der Milchstraße will Modeschöpferin Jil Sander ihr 325-Quadratmeter-Prachtpalais um kolportierte 4,95 Millionen Euro verkaufen. Erstanden soll sie es um vergleichsweise auftreibbare 1,75 Millionen Euro haben.
Die Pfeffersäcke
Verständlich, dass weniger betuchte Hamburger die Bewohner dieses noblen Bezirks gerne "Pfeffersäcke" schimpfen. Ein Spitzname, der auf jene Zeit verweist, in der die Elbe, der Strom zum offenen Meer, die zahlreichen Gewürzhändler der Stadt zu Wohlstand und Bedeutung kommen ließ. Ist mit dem sechzehnten Jahrhundert verdammt lange her, aber sieht man sich um, liegt die Geschäftstätigkeit vielen Hanseaten anscheinend im Blut. In keiner anderen Stadt Deutschlands wohnen mehr Millionäre pro Quadratmeter, sagt die Statistik.
Nicht die einzige Besonderheit der Metropole im nachbarlichen Hohen Norden. In keiner anderen Stadt wohnt, was heißt, residiert, der bekannteste Rockmusiker des Landes im bekanntesten Hotel der Stadt: Panikrocker Udo Lindenberg. Von "Alles klar auf der Andrea Doria" über den "Sonderzug nach Pankow" bis zur Hymne "Stark wie zwei" schreibt der schlaksige Siebziger seit Jahrzehnten am ultimativen Soundtrack Deutschlands. Und während sich Austropopper in Hideways in Speckgürteln zurückziehen, bewohnt Udo L., wohnhaft im Hotel – so einer seiner Kalauer – im Hotel Atlantic einen ganzen Trakt – und, so der Hotelportier, "das nun schon seit gezählten 21 Jahren“. Aber ob der auch heute da ist? "Klar, so gegen fünf am Abend ist seine Zeit." Da sind wir ja mal so richtig gespannt ...
Ein Abend an der Bar eines Nobelhotels ist auch im Winter keine schlechte Idee. Der Signature Cocktail "Transatlantic" mit seiner exotischen Note ist schon ein Hit. Ob das musikalische Wahrzeichen mit dem Schlapphut sich da wohl bald dazugesellen wird? Ein paar Drinks später geben wir w.o. Die erhoffte Udo-Sichtung verschieben wir auf morgen.
Bei näherer Erläuterung stellt sich heraus, dass es sich dabei um etwas handelt, das bei uns unter dem Begriff Zimtschnecke bekannt ist. Der Gemeinsamkeiten zwischen Hamburg und Wien gibt es daneben noch mehrere. Auch an der Elbe verläuft streckenweise die S-Bahn unten. Und die U-Bahn oben. Hier wie dort wohnen knapp 1,8 Millionen Einwohner. Beide Großstädte machen mit umfangreichen Bauprojekten am Wasser von sich reden. Und in beiden ist es ziemlich windig, an der Elbe im Schnitt sogar sehr heftig. "In Hamburg ist gutes Wetter, wenn es vertikal regnet", ist nur einer der flotten Sprüche, den man als Tourist so zwischendurch aufschnappt.
Ein anderer ist der Slogan eines Restaurants vis-à-vis der Elbphilharmonie: "So nah an der Elbe als möglich, mehr wäre drin …"
Für die „Elphi“ hingegen spricht schon allein die faszinierend futuristische Architektur samt der dem Vernehmen nach exzellenten Akustik der bis zu 2.100 Besucher fassenden Konzertsäle. Wer dieses neue Wahrzeichen Hamburgs höchstpersönlich wirken lassen möchte, muss sich gedulden. Mit einem Programm, das von Tastenlegenden wie Martha Argerich und namhaften Orchestern wie den Wiener Philharmonikern – sie treten schon einmal während des Eröffnungsfestivals am 22. und 23. Jänner auf –, ist die von Christoph Lieben-Seutter, dem früheren Intendaten des Wiener Konzerthauses geleitete Institution auf Monate hinaus ausgebucht.
So wie vielleicht Udo Lindenberg gestern. Da war er offenbar fremdgegangen. Oder hat sich womöglich erst nach Mitternacht über einen versteckten Seiteneingang reingeschlichen. Was weiß man, schließlich besang er ja einmal lauthals die "geile Meile Reeperbahn".
Ein Stetson Größe 57
Heute, beinahe Punkt fünf Uhr abends, haben wir Glück. Wir sichten doch tatsächlich beim Eingang zur Hotel-Bar des Atlantic zuerst seinen markanten Schlapphut, einen Stetson Größe 57, dann ihn. Die Institution Udo Lindenberg soll 450 Exemplare davon besitzen. Uns genügt der Anblick eines einzigen. Wir und Udo L. im selben Hotel. Ist ja ein Ding!
Blöd nur, wenn der erst in den 1970er-Jahren zugereiste Neo-Hanseate zur Feier des Tages nicht mit seinem Markenzeichen, sondern mit der hier üblichen Kapitänsmütze aufkreuzt. Aber das kann uns doch nicht täuschen. Und Udo-Fans schon gar nicht. Alles klar auf der Andrea Doria?
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