Die Geschichte von Eis und Schnee
Manche Dinge entdeckt man nur, wenn man die Perspektive ändert. Für Matthias Mayr und seinen Kumpel Matthias Haunolder keine Seltenheit, gehört der Perspektivenwechsel doch zu ihrem Anforderungsprofil als Extremskifahrer. Auf dem Heimweg von der Vulkaninsel Onekotan in Kamtschatka fliegen sie über Sibirien und entdecken Landschaften, die ihnen unbekannt waren. „Wir dachten, Sibirien besteht nur aus Flachland und Kältestädten. Aber dann sahen wir wunderschöne Gebirgsketten, komplett vergletschert, steil und schroff. Dass das in Sibirien existiert, war uns als Europäern gar nicht bewusst.“
Die unendlichen Weiten Sibiriens
Mayr und Haunolder versetzt der Anblick der unberührten Bergwelt sofort in einen Rauschzustand, genährt vom Adrenalin, das in den Adern von Abenteurern anstelle von Blut zu fließen scheint. Seit Jahren sind die beiden Freerider und Filmemacher aus Österreich auf der Suche nach dem ultimativem Kick: scheinbar unbezwingbaren Ski-Abfahrten an Orten, die die Welt noch nicht gesehen hat. So führte sie ihr letzter Filmdreh auch auf die russische Vulkaninsel Onekotan, unbewohnt und nur per Boot über das raue Meer erreichbar. Als wäre das nicht Abenteuer genug, schnallten sich die Österreicher schließlich noch ihre Skier an und machten sich den Vulkan im vergangenen Jahr Untertan – sturmgebeutelt, aber fest entschlossen. Heuer fügten sie ihrer Geschichte über Eis und Schnee ein neues Kapitel hinzu. Es geht um einen Berg namens Gora Pobeda, den die Russen nach dem 2. Weltkrieg „Berg des Sieges“ nannten und über den auch Mayr und Haunolder ihren persönlichen Sieg feiern wollten. Damals wussten sie noch nicht, dass sie eine Woche brauchen würden, um auf dem Gipfel zu stehen.
Endlich am Gipfel des Gora Pobeda
Die Route für Nachahmer: von Wien über Moskau nach Jakutsk, die kälteste Stadt der Welt an der Jena mitten in Ostsibirien. Die Durchschnittstemperatur im Jänner liegt dort bei minus 43 Grad. Hier erfahren sie auch, dass in der Nähe des Berges Nomaden leben. „Unser späterer Fahrer Pacha, den wir in Jakutsk kennengelernt haben, ist selbst bei den Nomaden aufgewachsen. Ohne sie hätten wir den Aufstieg auf den Gora Pobeda nie geschafft, weil sie die einzigen sind, die wissen, wie man zum Berg kommt“, erzählt Matthias Mayr.
Ohne Nomaden geht nix: Sie alleine kennen den Weg zum Berg
Zuvor mussten die Extremskifahrer samt ihrem Team mit dem Flugzeug noch einmal 1.000 Kilometer bis Ust-Nera, einer Siedlung städtischen Typs, zurücklegen. Außer ihnen befinden sich zwei Kameramänner, ein Fotograf, ein Fahrer und 300 Kilo Film-Equipment mit an Bord. „Ust-Nera ist die schrecklichste Stadt, die ich je gesehen habe“, erinnert sich Mayr. „Eine alte Goldgräberstadt, in der es aussieht wie im Krieg, weil alles kaputt ist. Hier leben 4.000 Menschen, die meisten kommen aber nur zum Geldverdienen und verschwinden wieder.“ Was bei Temperaturen von bis zu minus 60 Grad im Winter und plus 30 Grad im Sommer verständlich ist. „Das ist auch für Gebäude nicht sehr förderlich.“
Die Crew: Freerider Haunolder und Mayr (in Rot und Blau) mit Kameramännern und Fotografen
Danach legt die Crew nochmals 300 Kilometer mit dem Auto bis ins abgelegene Dörfchen Sasyr zurück, wo endgültig das Niemandsland beginnt. Von dort geht es in einer vierstündigen Reise mit dem Schneemobil bis zu den Nomaden weiter, wo irgendwo im Nirgendwo zwei Holzhütten stehen. „Das ist ihr Winterquartier, das nur in der kalten Jahreszeit erreichbar ist, wenn Flüsse und Boden gefroren sind.“
Leben in Sibirien: Zwei Hütten für zwölf Menschen. Geschlafen wird in einer
Während die Nomaden im Sommer von Ort zu Ort ziehen, leben sie im Winter zu zwölft in einem Raum – Vater, Mutter, Großvater und Kinder. Kein Klo, kein fließendes Wasser und ein Generator, dessen Strom abends nur für ein bisschen Fernsehen reicht. Vor der Haustüre ihre Nahrungsgrundlage in Form von 1.000 Rentieren, die den Speiseplan diktieren: Rentierfleisch von morgens bis abends. „Die Nomaden sind glücklich. Die Kinder spielen den ganzen Tag im Freien und sitzen nicht vor einem Computer. Wenn jemand genug von der Zivilisation hat, wäre das der richtige Ort um auszuspannen.“
Kinder, Kinder: Durchschnittstemperaturen von -30 Grad gehören dazu (o.) Rentiere auch
Haunolder und Mayr wollten aber genau das Gegenteil – die Erforschung unbekannten Terrains. Weil der Schnee in der Gegend so trocken ist, müssen die Nomaden einen Tag lang zwischen ihrer Hütte und dem Bergfuß hin- und herfahren, „um eine Spur zu ziehen. „Verlangt haben sie dafür, was wir ihnen geben wollten. Es lag in unserem Ermessen.“ Vom Fuß des Berges brauchen Haunolder und Mayr noch einmal drei Tage bis auf den 3.003 Meter hohen Gipfel des Gora Pobeda: „Seine Nordflanke hat es mit einer Neigung von 60 Grad in sich. An der Stelle, wo wir abgefahren sind, waren es immer noch 50 Grad.“
Extrem steil und gewagt: Mayr und Haunolder bei der Arbeit (auch die kleinen Punkte am Bild oben)
Mayr und Haunolder schnallen ihre Skier an, fahren los und in einem durch. „Stehen bleibt man nicht, weil gefilmt wird und das Ganze einen Fluss haben muss.“ Ein Jahr Vorbereitung für eine Minute fragwürdiges Vergnügen. „Woody Allen hat einmal gesagt“, erzählt Mayr von solchen Hinweisen unberührt, „dass das Beste am Seitensprung der Anlauf ist.“ Deshalb hat das Duo auch schon das nächste Ziel im Visier: die Antarktis, wo der zweithöchste Berg der Region auf der To-do-List der beiden steht. „Der Berg ist 4.852 Meter hoch und wurde bisher zehn Mal bestiegen, aber noch nie befahren.“ Ab Jänner 2018 werden Mayr und Haunolder die Ersten sein – wieder einmal.
Matthias Mayr, 35, (r.) fuhr schon als Kind Skirennen, weil sein Vater Trainer war. Seit 2009 ist er hauptberuflich als Free Rider unterwegs und hat mit seinen Skiern alle Kontinente bereist. In seiner Doktorarbeit widmete der Sportwissenschaftler sich passenderweise dem Thema „Adrenalin beim Extremskifahren“. Die von ihm befahrene Insel Onekotan in Russland hat er auf Google Earth entdeckt. Den Gora Pobeda hat er beim Heimflug von Onekotan als neues Ziel ausgemacht. Immer an Mayrs Seite ist sein Kompagnon Matthias Haunolder, 36, mit dem er den Film „The White Maze“ über das Abenteuer auf dem Gora Pobeda gemeinsam promotet.
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