Als ihr das Burnout den Boden unter den Füßen wegzog, kehrte sie nach Island zurück. Die Insel im Nordatlantik gilt nach Finnland und Dänemark als drittglücklichstes Land der Welt. Sie ist bekannt für ihr Gemeinschaftsgefühl und eine fast einzigartige Chancengleichheit: Die Pride-Parade in Reykjavík soll die einzige sein, gegen die nie protestiert wurde und das Land hat mehr als 90 Prozent des Gender-Pay-Gaps überwunden.
Natürliche Kraft
Außerdem – und vielleicht am relevantesten: Island hat eine majestätische, wild-stürmische Natur. „Es gibt einen Witz, den wir Isländer gerne erzählen“, sagt Hrund Gunnsteinsdóttir, als der KURIER sie via Zoom in Berlin erreicht. „Wenn dir das Wetter in Island nicht gefällt – dann warte einfach fünf Minuten.“ Sie lächelt. „Aber natürlich, wenn man in einem Land mit so prächtiger Natur und dort inmitten natürlicher Wälder geboren wird, prägt einen das.“
In ihrer alten Heimat ging Hrund Gunnsteinsdóttir viel spazieren und begann, Tagebuch zu schreiben. Sie schrieb unterschiedliche Satztypen auf, las sie sich vor und nahm immer stärker wahr, wie sich ihr Bauch bei manchen Sätzen verknotete, bei anderen entspannte.
„Es ist lustig“, sagt sie dazu. „Ich bin lange Zeit sehr misstrauisch gegenüber Intuition gewesen. Ich bin wissenschaftlich ausgebildet und glaubte an objektive Wahrheiten.“ Doch plötzlich spürte sie klar, was sie wirklich wollte – und es war das Gegenteil von dem, worauf sie ihr Leben lang hingearbeitet hatte.
Sie kündigte ihren Traumjob in Genf und machte sich auf die Suche. Sie sprach mit Universitätsprofessoren und Schamaninnen, Künstlerinnen und Heilern. In Harvard hörte sie, dass auf höchster Ebene Entscheidungen oft nach Bauchgefühl getroffen werden. Die Künstlerin Marina Abramović, die im MoMA 700 Stunden lang Menschen in die Augen geschaut hatte, sagte ihr, dass die Menschen entfremdet seien, weil sie im Kopf statt im Herzen leben. Durch viele Gespräche mit Medizinern und Wissenschaftlern wurde Hrund klar: Das Bauchgefühl ist kein diffuses Gefühl, sondern tiefes Wissen, das wir anzapfen können. Und eines Tages sah sie dann, dass hinter InnSæi – dem isländischen Begriff für Intuition – viel mehr steckt.
Mehr als ein Wort
InnSæi, erläutert sie in ihrem Buch, ist ein poetisches, ein in den Naturgewalten verwurzeltes Wort. Es bedeutet einerseits „das Meer in uns“, beschreibt damit den grenzenlosen Ozean unseres Bewusstseins, der ständig in Bewegung sein sollte und sich nicht in Schubladen pressen lässt. Es heißt aber auch „nach innen sehen“: Nur wer sich selbst gut genug kennt, kann sich in andere hineinversetzen. Und zuletzt meint InnSæi noch, „von innen heraus sehen“, sich vom inneren Kompass leiten lassen.
Aus diesem Wort wurde eine Bewegung: zuerst ein Studienprogramm, danach ein Dokumentationsfilm und dann ein Buch, das nun nicht nur auf Deutsch, sondern in einem Dutzend anderer Sprachen erschienen ist. Gunnsteinsdóttir traf Menschen, die sich InnSæi tätowieren ließen oder ihr Yogastudio danach benannt hatten. Diese Woche war sie in Polen; als nächstes stehen Brasilien und die Türkei an. „Es scheint, als hätte ich einen Nerv getroffen.“
Dabei stellt sie aber sicher, dass sie immer wieder nach Island zurückkommt. „Ich vermisse es sonst, im Atlantik zu schwimmen.“ Dieser Moment, wenn das Meer nicht im Innen, sondern auch im Außen ist.
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