Wolf Biermann: "Sich selbst kann man nicht betrügen"

Wolf Biermann: "Sich selbst kann man nicht betrügen"
Wolf Biermann hat in der DDR den bösen Kommunismus erlebt und will auch kein guter Kommunist mehr sein. Bald kommt er nach Wien.

Mit 17 übersiedelte er als glühender Kommunist freiwillig in die DDR. Mit 25 begrüßte er dort den Bau der Berliner Mauer und geriet dennoch mit dem Regime in Konflikt. Mit 40 wurde er rausgeworfen aus dem Arbeiter- und Bauernstaat. Im November wird Wolf Biermann, Liedermacher und Lyriker, der maßgeblich zum Ende der DDR beigetragen hat und demnächst zu zwei Auftritten nach Wien kommt, 75.

In seinem gemütlichen Hamburger Haus erzählt der Künstler, wie er vom Kommunismus geläutert wurde, warum die Linke doch nicht recht hat, wieso der gierige Neoliberalismus nicht die Hauptschuld an der Finanzkrise trägt und warum der Ex-Dissident das "Wutbürgertum" nicht mag.

Herr Biermann, wir haben gerade den 50. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer begangen. Als Sie die Bilder wieder gesehen haben, was ist da in Ihnen vorgegangen?
Wolf Biermann: Sowohl der Bau der Mauer als auch ihr Sturz - das sind Bilder, die ich nicht gerne sehe. Den Bau der Mauer sehe ich nicht gerne, weil ich damals für den Bau der Mauer war. Wie Sie schon dunkel ahnen, bin ich in diesem Punkt nicht mehr meiner Meinung.

Warum waren Sie damals dafür?
Weil kurz nach dem Nazi-Krieg in diesem ehemaligen Nazi-Deutschland die Menschen, die ein besseres, gerechteres Deutschland aufbauen wollten, also die Kommunisten, zu denen ich mich rechnete, das moralische Recht hatten, nun hinter Stacheldraht einen zweiten Versuch zu machen, nachdem der erste gescheitert war. Und darin liegt schon der böse Haken in meiner Position damals.

Wieso?
Ich schrieb damals ein Theaterstück über den Mauerbau und verteidigte ihn. Aber mit Argumenten, die für die Herrschenden, die die Mauer gebaut hatten, so unerträglich waren, dass sie das Stück verboten und uns wie die Hunde auseinander jagten.

Was hat die Machthaber gestört?
Dass ich die nackte Wahrheit deutlich sagte: Wir selber! sind schuld an dieser Mauer. Sie ist die Konsequenz unserer Verbrechen und unserer Fehler.

Das wurde lieber verdrängt?
Das Regime nannte die Mauer den antifaschistischen Schutzwall, was ja eine Orwell'sche Lüge war. Die zu durchschauen, brauchte es nicht viel Verstand, das wusste jedes Kind in Ost- und in Westberlin. Die einzigen, die es nicht wissen wollten, waren die Idioten im Politbüro der SED. Die lebten ja davon, dass sie es nicht wissen. Politisch gesprochen fanden die meine Zustimmung zur Mauer niederträchtig und schlimmer, als wenn ich aus naiven Gründen gegen die Mauer gewesen wäre.

Das war der Beginn Ihres "solidarischen Widerstandes" in der DDR?
Das war eine brachiale Lektion für den jungen Dichter, der lernen musste, dass er diesem Streit nicht entweichen kann. Das hat mich radikalisiert und meine kommunistische Kritik an den Pseudokommunisten in der DDR gestachelt. Meine Haltung in der ganzen Zeit bis zu meiner Ausbürgung 1976 war die meines Freundes Robert Havemann: Ich bin der richtige Kommunist, ihr seid die falschen. Meine Mutter, eine alte Kommunistin ...

Die in Hamburg lebte.
... ja, die sollte damals gegen mich in Stellung gebracht werden im Propagandakrieg, als ich verboten war und als Verräter und Konterrevolutionär galt.

Wieso hat das Regime Sie verboten und trotzdem in den Westen ausreisen lassen?
Weil sie mich loswerden wollten.

Aber Sie wurden erst 1976 ausgebürgert.
Ich habe fünf Jahre Lieder gesungen und Gedichte verbreitet, dann wurde ich 1965 gänzlich verboten. Das hatte ich redlich verdient. Elf Jahre später ausgebürgert. Ganz am Anfang hatten sie gehofft, dass ich zur Vernunft komme, weil sie verführt waren von der Hoffnung, dass ein junger Rattenfänger mit der Gitarre die Jugend auf den einzig reichtigen Weg locken würde. Die fanden diese Lieder so schön ...

... nur die Texte halt nicht.
Sie fanden, der ist jung, der ist dumm, der ist eitel, wir müssen ihn auf die richtige Linie locken, zerren, prügeln. Und bis 1965 verloren die Herrschenden die Hoffnung nicht.

Und warum verloren sie sie dann?
Das hatte mit mir nur zur Hälfte zu tun. Wo die Schmerzgrenze bei den Herrschenden liegt, ist ja eine variable Größe und hängt immer davon ab, wie die Gesamtsituation sich ihnen darstellt.1965 waren die Chruschtschow'schen Liberalisierungsversuche abgebrochen, die DDR war in wirtschaftlich schwersten Schwierigkeiten, weil die Handelsbeziehungen zum Haupthandelspartner Sowjetunion im Grunde eine verlängerte Wiedergutmachungszahlung aus der Nazi-Zeit waren. Wir lieferten Schiffe, die uns mehr kosteten als wir dafür kriegten, und Ulbricht fand das gerecht. Aber Erich Apel, der oberste Wirtschaftschef im Politbüro, ein umerzogener Nazi-Offizier, nahm sich das Leben. Und der Schock darüber, dass der sich in der Dienstzeit mit dem Dienstrevolver im Dienstzimmer umgebracht hat, statt die Verträge mit der Sojetuinon zu unterschreiben, hat die Herrschenden wahnsinnig gemacht. Und das ist der tiefere Grund für das schreckliche Kulturplenum der SED damals, wo alle Filme der Defa abgesetzt wurden und wo Robert Havemann, Stefan Heim und Wolf Biermann als Einzelathleten verboten wurden.

Wolf Biermann: "Sich selbst kann man nicht betrügen"

Wieso funktionierte das Verbot gegen Sie nicht?
Man hatte im Politbüro die Hoffnung, dass ich austrockne, vereinsame und verblöde. Aber das passierte nicht. Meine Lieder und Gedichte verbreiteten sich durch Tonbandkopien und Selbstherausgabe in geometrischer Reihe. Und das war der Grund, warum sie beschlossen, mich nicht einzusperren, sondern, was billiger sein sollte, mich auszuweisen. Und das wurde dann doch teurer, als sie gedacht hatten und ahnen konnten.

Weil sich eine ganze Reihe von Künstlern gegen das Regime erhob?
Genau. Mit dem Geschrei im Westen hatten sie gerechnet. Mit den massiven Protesten in der DDR überhaupt nicht. In der Folge wurden viele viele Menschen eingesperrt. Und die arrivierten Protest-Schrifsteller wurden noch härter bestraft als die einfachen Arbeiter in den Fabriken. Die kleinen Leute wurden nur eingesperrt, während die Schriftsteller noch mehr Privilegien kriegten und einen Reisepass in den Westen, was bei etlichen eine sehr wirkungsvolle Art war, sie zu zersetzen, wie das im Stasi-Jargon hieß - weil sie verlockt waren, sich das Privileg durch Wohlverhalten zu erhalten.

Der Schriftsteller Jurek Becker sagte, Ihre Ausbürgerung sei der Anfang vom Ende der DDR gewesen - das ist ja nicht nix, oder?
Das ist keine Übertreibung, aber man muss es nur richtig missverstehen. In Wirklichkeit war es nicht meine Ausbürgerung, sondern der unerwartete Protest gegen meine Ausbürgerung.

"Kommunismus steht für das zynische Gegenteil einer besseren, gerechteren Gesellschaft" - wann sind Sie zu dieser Erkenntnis gekommen?
Peinlich spät. In der DDR konnte ich nur standhalten mit der Illusion, ich sei der gute Kommunist, und die sind die schlechten. Als ich dann im Westen war, wurde es immer mühsamer, die Leute zu langweilen mit stundenlangen hochintelligenten Erklärungen, dass ich doch der richtige Kommunist bin und die Parteibonzen die falschen sind.

Und dann haben Sie gleich auch mit dem "guten" Kommunismus gebrochen?
Ja, musste ich ja.

Weil?
Weil Manes Sperber mir endlich in Paris den faulen kommunistischen Zahn gezogen hat.

Wie das?
Der hatte das selbst durchlitten. Der war mit der Erfahrung der dreißiger Jahre ausgerüstet, als er selbst mit dem Kommunismus gebrochen hatte, was für ihn sehr gefährlich war, weil der hatte nun nur noch Feinde: Als Jude die Nazis in Paris, und als Renegat die Stalinisten.
Und auch für mich war der Bruch nicht leicht. Weil doch meine ganzen Leute Kommunisten waren und dafür gestorben sind, im Kampf gegen die Nazis. Es fiel mir sehr schwer, diesen Verrat zu begehen, diesen guten Verrat.

Warum haben Sie dann mit dem Kommunismus gebrochen?
Weil ich die Erfahrung akzeptieren musste, die Millionen Opfer gemacht haben: Dass der Weg in dieses kommunistische Paradies nicht nur nicht der Weg ins Paradies ist, was ja nicht so schlimm ist. Kommunist kann ich nicht mehr sein, weil der Versuch, den Himmel auf die Erde zu zwingen, in die schlimmsten Höllen führt, wo mehr ausgebeutet und mehr geheuchelt und mehr gemordet wird, als sonst irgendwann und wo in der Weltgeschichte. Das ist zu viel zu wenig, verstehen Sie? Und der Sperber hat mir den Zahn sehr raffiniert gezogen, wie ein freundlicher Zahnarzt mit starker Betäubungsspritze. Er war begeistert von meinen Liedern. Ihn ärgerte, dass ich so ein Dummkopf bin, oder genauer gesagt, dass ich nach all den Erfahrungen nicht den Mut habe, den Bruch zu wagen.

Sie haben zweimal den Glauben an den Kommunismus verloren: durch die Machthaber in der DDR und durch Manes Sperber. Wie verkraftet man den so radikalen Verlust seiner Ideale?
Das Kunststück habe ich auch gelöst mit einem Kunst-Stück, also mit einem neuen Lied, dessen Titel inzwischen schon zu einem geflügelten Wort geworden ist: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu." Da ist das Problem ziemlich genau auf den Punkt gebracht. Man will sich treu bleiben, will der selbe Mensch bleiben, aber da muss man die Kraft und den Mut haben, sich zu ändern. Und zwar nicht sich anzupassen im opportunistischen Sinne, was man "sich wenden" nennt. Im Deutschen haben wir dagegen das schöne Wort: "sich wandeln". Deshalb, by the way, ist das Wort Wende für den Zusammenbruch der DDR sehr korrekt für die Darstellung dessen, was die Herrschenden der DDR wollten. Wie beim Segeln wollten sie gegen den Wind der Weltgeschichte wenden und kreuzen in die alte totalitäre Richtung. Aber der lebendige Mensch muss die Kraft und den Mut haben, sich zu wandeln, wenn er's endlich besser weiß.

Und wenn er das nicht tut?
Dann kriegt er als Dichter von den Musen die Strafe, unerbittlich. Die Musen haben eine feine Nase für den Gestank der Feigheit und der Heuchelei - die küssen den Dichter nicht mehr. Die Menschen kann man vielleicht noch eine Zeitlang bescheißen, sich selbst kann man auch betrügen, aber diese Musen ...!

Wenn man sich vom Kommunismus so endgültig abwendet, wem oder was hängt man dann an?
Dann wird es kompliziert. Denn man dertiert ja nicht aus der Geschichte und aus dem, was Heinrich Heine in dem Gedicht "Enfants perdu" den Freiheitskrieg der Menschheit nannte. Nicht zu verwechseln mit den Freiheitskriegen der Fürstenhäuser gegen den Okkupanten Napoleon. Heine meint, dass der Freiheitskrieg der Menschheit so alt ist wie die Menschheit. Er wird immer wieder gewagt, gewonnen und verloren und auf höherer Stufe abermals gewonnen. Wer aus diesem ewig jungen Freiheitskrieg desertiert, der ist in meinen Augen nichts wert.

Sie haben sich also zum ideologiefreien Freiheitsbegriff gewandt?
Ideologie heißt ja im marxistischen Jargon nichts anderes als "falsches Bewusstsein". Was gut zu wissen ist, weil Marx doch die "Deutsche Ideologie" geschrieben hat, und weil wir später in den kommunistischen Parteien eine "ideologische Kommission" hatten. Das heißt, die Parteiideologen haben diesen Dreckbegriff wie die Idioten geleckt.

Aber nochmal: Sozialismus und Kommunismus in seiner theoretischen Idealform kann es gar nicht geben?
Wer immer noch an die Endlösung der sozialen Frage glaubt, an ein Narrenparadies, wo der Löwe Gras frisst - auf Deutsch: den Schafen auch noch das Gras wegfrisst und dann die Schafe hinterher -, der liegt falsch. Denn das Narrenparadies ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ohne Unterdrückung, ohne Heuchelei, eine klassenlose Gesellschaft, im Lied "Alle Menschen werden Brüder" - das kann es niemals geben.

Schade, oder?
Inzwischen sage ich böse: In dieser Idylle möchte ich auch gar nicht leben. Denn es wäre die Hölle, in der ich mich zu Tode langweilen würde.

Wenn es das Ideal nicht geben kann: Was ist dann das Ideal?
Das Ideal ist der ständig sich in Frage stellende und behauptende Mensch in diesem Freiheitskrieg der Mnehscheitsgeschichte.

Das füttert den, der nichts hat, aber auch nicht.
Aber die Diktatur füttert den, der nichts hat, mit Dreck, allenfalls im aufgerissenen Maul, weil er in die grube geschossen wurde.

Wieso sehen Sie dann, wie Sie am Beginn des Gesprächs gesagt haben, auch die Bilder vom Fall der Mauer nicht gerne?
Weil ich nicht dabei war! Aus Neid sehe ich sie nicht gerne. Stellen Sie sich die Situation bitte vor: Ich habe mit meinen Liedern und Gedichten und durch mein Beispiel Einiges dazu beigetragen, soweit ein Einzelexemplar eine Wirkung haben kann, dass die Mauer fällt - und ich bin nun, wo sie fällt, nicht dabei! Ich sitze hier in Hamburg am Fernseher ...

Warum sind Sie nicht sofort hingefahren?
Das konnte ich nicht, dazu ging mir das zu nahe. Wenige Tage vor dem Zusammenbruch waren am 4. November auf dem Alexanderplatz eine Million Menschen, wo solche finstere Lichtgestalten wie der Stasi-General Markus Wolf und der Politbürohling Schabowski und der gerissene Gregor Gysi sprachen, um noch im letzten Moment die Kurve zu kriegen, aber auch so hin- und hergerissene Halbhelden wie Christa Wolf und Stefan Heim und Heiner Müller. Aber zum Glück auch echte Lichtgestalten wie Marianne Birtler und Hens Reich. Da war der Machtkampf noch nicht entschieden. Und Egon Krenz, der Honecker abgelöst hatte, dachte darüber nach, ob er oder ob er nicht die chinesische Lösung probieren sollte, zu der er die Chinesen gerade eben beglückwünscht hatte (Niederschlagung des Aufstandes auf dem Tiananmen-Platz, Anm.). Und Bärbel Boley hatte mich in einem Telefonat zwischen Deutschlandfunk, ihr und mir live im Überschwang eingeladen, ich solle doch kommen und aufm Alex Lieder singen. Und natürlich wollte ich hin, jetzt, wo sich gerade alles ändert. Aber die haben mich am Bahnhof Friedrichstraße nicht rein gelassen, die Grenze war noch dicht. Also flog ich mit gestimmter Gitarre und verstimmter Seele wieder nach Hamburg. Und dann sehe ich am 9. November in der Tageschau: Mein Drama wird weitergespielt auf der Weltbühne, und wer steht nicht an der Rampe: der kleine Biermann.

Haben Sie je damit gerechnet, dass die Mauer fallen könnte?
Da ich ja dermaßen erfahren und weitblickend bin, wusste ich ganz genau, dass die Mauer viel länger halten wird als ich. Nein, ich gehöre nicht zu denen, die das gewusst oder geahnt haben. Aber ich bin froh darüber, dass ich mit meinen Liedern und Gedichten doch einige Wirkung erzielt habe, um so wunderbar unrecht zu behalten.

Als Sie dreizehn Jahre davor in Deutschland West Fuß fassen mussten, wie war das?
Eine absurde Situation. Statt froh zu sein, dass ich endlich im Offenen bin, wie es bei Hölderlin heißt, weniger poetisch: dass ich endlich keine sechs Spitzel vor der Tür habe, keine drei Autos hinter mir in Ostberlin, dass ich endlich öffentlich singen kann und dafür sogar Geld kriege, dass ich endlich mal als alter Mann von 40 Jahren an der Menschheit lecken kann, was ja auch nicht schadet - also tausend Gründe, sich zu freuen: Nein, ich lief rum wie das Leiden Jesu zu Pferde.

Warum?
Weil ich Angst hatte vor der westlichen Welt. Im Westen war ich der Dumme, der Neue, ich hatte doch keine Ahnung. Mich irritierte, dass ich meine treuen Freunde verloren hatte, aber noch mehr: auch meine treuen Feinde, auf die ich gut trainiert war. Stellen Sie sich mal vor, Sie haben Ihre ganzen emotionalen und intellektuellen Kräfte in einem bestimmten Koordinatensystem trainiert, und plötzlich gibt es das alles nicht mehr, Sie sind der Anfänger, stellen Sie sich mal da hinten hin und halten die Klappe und hören zu. Sie müssen erst mal ein paar Jahre lernen, und dann können Sie ganz bescheiden anfangen, wieder was zu erzählen. Das dauerte ein, fünf, sechs, sieben Jahre, bis ich endlich so weit war, dass ich den Gewinn, der mir zugeflossen war, annehmen und würdigen und genießen konnte.

Hat Sie das verändert?
Ich fragte damals meine Frau Tine, die sie mir hinterher geschmissen haben und mit der ich drei Kinder habe, eine etwas naive Frage: "Habe ich mich eigentlich verändert hier im Westen?" Und die antwortete, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken: "Ja, im Osten warst Du lustiger."

Wann sind Sie wieder lustig geworden?
Als ich den Westen neu gelernt hatte. Dann pendelt sich wieder die normale Seelenökonmie von Verlust und Gewinn, von Traurigsein und Fröhlichsein ein, dann ist man wieder im Gleichgewicht von begründeter Verzweiflung und begründeter Hoffnung.

Und alte Feinde gibt's auch noch, die Linken in Deutschland, auch wenn's denen grad nicht gut geht.
Sie sind die spießigen Nutznießer der Wiedervereinigung. Aber geschichtlich haben die verloren.

Aber dass die überhaupt Zulauf hatten, wieso?
Das hat Gründe. Ich las gerade vorhin in Nietsches "Also sprach Zarathustra" einen Satz, der mich fast geärgert hat, weil ich immer dachte, ich hätte das erfunden: Wenn Sie einem Menschen zu viel verdanken, dann ist das auch eine Demütigung, und wenn Sie keine Chance haben, sich jemals zu revanchieren, dann müssen Sie den Menschen, dem Sie zu viel verdanken, eben hassen. Ich würde zu viel Helfereien auch nicht aushalten. Dann ist man fast zwanghaft nur noch daran interessiert, das was man an Hilfe genossen hat, klein zu reden und schlecht zu reden. Genau das ist auch das Problem der Wiedervereinigung. Es ist noch niemals so viel Geld - im marxistischen Jargon: geronnene Arbeit - von A nach B geflossen, von West- nach Ostdeutschland, über 2000 Milliarden Dollar.

Und das wird als Demütigung verstanden, und im Hass wählte man die alten Linken?
Ich will Ihnen sagen, wo ich das noch klarer erkannt habe: in Südkorea. Da schleppten sie mich auch an den 38. Breitengrad in die berühmte Grenzbaracke, die seit dem Ende des Korea-Krieges in sich auch geteilt ist. Die Koreaner haben ein übertriebenes Interesse an meinen Liedern, weil sie alles gerne hören wollen, was einer zu erzählen hat, der aus einem geteilten Land kommt. Man will eben vergleichen und sehen, ob man etwas davon brauchen kann. Und ich habe dabei gelernt, dass die Koreaner wie die Hunde an der Teilung ihres Landes leiden, viel tiefer und dramatischer und schmerzhafter als die Deutschen je gelitten haben. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Westdeutschen so an der Teilung des Landes gelitten haben, die Ostdeutschen mehr, weil sie eingesperrt waren. Aber die Koreaner sehnen sich nach der Wiedervereinigung, und gleichzeitig haben sie eine Todesangst vor einer Wiedervereinigung und tun alles, um sie zu verhindern. Und zwar indem sie das nordkoreanische System stützen, mit Mais, den sie um Millionen in China kaufen, mit Düngemitteln gegen die nächste Missertne ...

Und warum diese Wiedervereinigungsangst?
Weil sie sich an einem Finger ausrechnen können, was sie sich aufladen mit einer Vereinigung. Das wird nicht so billig-teuer wie in Deutschland. Dagegen ist alles Schwierige, was wir durchgemacht haben und was Kohl "aus der Portokasse bezahlen" wollte, null komma josef.

Weil wir bei der Gegenwart angekommen sind: Schirrmacher und Moore sagen angesichts der Finanzkrise, "die Linke hat doch recht", verfolgen Sie diese Diskussion?
Nein, das ist ein Gespräch im Orkus der Weltgeschichte. Berlinerisch gesagt: Jar nicht ingjnorieren.

Aber wer ist tatsächlich schuld an der Krise: Der böse neoliberale Markt mit seinen Spekulanten, wie die einen sagen, oder die Staaten, die durch hemmungsloses Sichverschulden das Spekulieren auf sie erst ermöglichten? Was stimmt?
Das zweite natürlich. Wir werden auf hohem Niveau etwas lernen müssen, was meine Oma Meume, die nicht perfekt lesen und schreiben konnte, sehr genau wusste: Wir können nicht mehr essen, als wir haben. Ganz einfach.

Wolf Biermann: "Sich selbst kann man nicht betrügen"

Sagen Sie, der Wutbürger ist ein Begriff geworden: Vom arabischen Raum über Stuttgart 21 bis zu Protesten in Spanien und Randale in London - ist dieses Aufbegehren einer Generation, die den Begriff Dissident gar nicht mehr kennt, eine Mode oder eine wirkliche Gesellschaftsentwicklung.
Das ist die Schnellpolitisierung von Eintags-Menschen, die langfristig entpolitisiert wurden. Das ist der schäbige Ersatz für wirkliches Kämpfen wie Heine es mit dem Freiheitskrieg meint.

Aber die kämpfen doch?
Die kämpfen in Stuttgart ohne Einsatz. Nicht wenig Einsatz, sondern gar keiner.

Na die arabische Revolution ...
Das sind auch keine Wutbürger, Die reiten, wie es im mittelalterlichen Sprichwort heißt, mit dem eigenen Arsch durchs Feuer.

Für Demokratie.
Die Demokratie ist eben auch nicht das Paradies. Darüber will ich auch in Wien sprechen: Nicht über den flüchtigen Glanz, sondern auch über das chronische Elend der Demokratie.

Das da wäre?
Man muss gewählt werden. Das ist der Grundvorzug der Demokratie, aber eben auch ihr ewiger Nachteil, ihr Konstruktionsfehler.

Warum Fehler?
Weil man auch vom Pack gewählt werden muss, auch von Ignoranten, die ja immer in der Mehrheit sind. Und ich meine das gar nicht zynisch. Nehmen wir einmal den Idealfall eines Politikers an, der absolut nicht von Machtgier, Eitelkeit und Habgier getrieben ist, der vielleicht so etwas wie ein evangelisches Ethos hat, wie etwa unsere Kanzlerin Angela Merkel, die nach meiner Meinung absolut nicht von ihren Eitelkeiten beherrscht wird, den Idealfall eines Politikers also, der klug ist, der einigermaßen Welterfahrung hat und Lebenserfahrung, der ehrlich ist - wenn er etwas bewirken will in der Gesellschaft, in der er lebt, muss er von einer Mehrheit gewählt werden. Und das ist das Dilemma der Demokratie..

Er muss nach dem Maul reden?
Er muss auch dem Pack schmeicheln und nach dem Maul reden - und sei es durch Schweigen. Er muss zum Beispiele aus der Atomenergie aussteigen, obwohl er der Meinung ist, dass das ein Fehler wäre.

Sind Sie dieser Meinung?
Ich ja, natürlich. Ich weiß sehr wohl, dass ich mich da riesig irren kann. Selbst Albert Einstein könnte sich da irren, der im Schnauzbart mehr physikalischen Verstand hatte als ich im Gerhin. Immerhin kann ich Ihnen erklären, wie ein Kühlschrank funktioniert, ich kann Ihnen sogar die Kernspaltung erklären - denn man hat viel Mühe auf meine Bildung verwandt, ich hab' Philosophie und Mathematik studiert. Trotzdem bin ich ein Laie gemessen an der Komplexität dieses Problems und bin ihm überhaupt nicht gewachsen. Ich kann Ihnen nur auf etwas höherem Niveau erklären, dass ich es nicht erklären kann. Wenn ich jetzt aber die Gesellschaft verändern und gewählt werden will, was müsste ich denn nun machen als Politiker?

Und was ist der Glanz der Demokratie?
Der Glanz der Demokratie ist großartig. Der Glanz ist, dass das Volk die gewählten Führer, Anführer, Bosse, Bestimmer, Chefs loswerden kann, ohne sie totschlagen zu müssen. Das heißt, es ist ein bescheidener Glanz, kein glänzender. Früher habe ich den berühmten Satz von Churchill über die Demokratie, den jeder mehr oder weniger korrekt zitieren kann, immer nur halb verstanden, also gar nicht. Inzwischen begreife ich Glanz und Elend der Demokratie etwas besser.

Zur Person: Sänger, Dichter und weiser Unbequemer

Wolf Biermann 1936 in Hamburg geboren, verliert den kommunistischen Vater 1943 im KZ. 1953 freiwillig in die DDR übergesiedelt, studiert er Mathematik, Philosophie. Ab 1960 schreibt er Gedichte und Lieder, gerät mit dem Regime in Konflikt. Er wird 1965 verboten, arbeitet im Untergrund weiter. 1976 wird ihm nach einem Konzert in Köln die Wiedereinreise in die DDR verweigert. Das und Solidaritäts-Proteste gelten mit als Beginn vom Ende der DDR. Biermann wendet sich radikal vom Kommunismus ab, zieht nach Hamburg. Im Oktober erscheint sein neues Buch: "Fliegen mit fremden Federn" bei Hoffmann & Campe, im November eine DVD mit dem "Kölner Konzert von1976".

Wien-Besuch Kommenden Mittwoch singt und spricht Biermann über "Glanz und Elend der Demokratie" im Parlament in Wien (nur mit Einladung); am 5. November konzertiert Biermann im Wiener "Theater Akzent" mit dem Programm: "Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um"

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