Ungarn: "Wie soll man auf diese Art überleben?"
Julia Ferencz (Name von der Redaktion geändert, Anm.) spricht neben ihrer Muttersprache Ungarisch auch fließend Spanisch, Deutsch, Englisch und Portugiesisch. Nach mehreren Auslandsaufenthalten war daher ein Job für sie als Fremdenführerin in Budapest naheliegend.
Wer in dieser Berufssparte arbeitet, gehört meist einem zuversichtlichen und zukunftsorientierten Menschenschlag an. Doch Julia Ferencz ist anders. Sie sieht im heutigen Ungarn keine Zukunft für sich. Sie ist zutiefst frustriert: "Alles ist hier sinn- und zwecklos."
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989, so erzählt die 36-Jährige dem KURIER, sei es noch "halbwegs gegangen". Anfangs. Ein leichter Aufschwung war sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftspolitisch zu bemerken. "Doch dann ging es steil bergab", erzählt die Mutter einer zehnjährigen Tochter. In den Köpfen vieler ihrer Landsleute steckte noch immer der Kommunismus: "Nichts geben, sondern nur nehmen." Die Staatskassen waren leer, und "bis heute haben sie sich nicht gefüllt".
Julia Ferencz ist mittlerweile vom Alltagskampf zu müde geworden, um ihr Einkommen ehrlich zu versteuern. Zwischen 40 und 60 Prozent seines Gehalts muss jeder Ungar an den Staat abgeben – abhängig davon, ob man als Selbstständiger arbeitet oder angestellt ist. "Wie soll man auf diese Art überleben", fragt sich Frau Ferencz. "Mit Ehrlichkeit sicher nicht, mir jedenfalls fehlt der Mut dazu." So denke nicht nur sie, "sondern Hunderttausende Ungarn".
Julia Ferencz nennt Beispiele, wie man den Staat hintergehen kann. Sie zum Beispiel ist nur zum Schein bei einer ungarischen Firma mit einem Monatsgehalt von 250 Euro angestellt. Diesen Lohn gibt sie beim Finanzamt an. Die Lohnnebenkosten zahlt sie aus ihrer eigenen Tasche, die Firma schreibt das Gehalt der unsichtbaren Mitarbeiterin ab – und sie kann in Ruhe als Fremdenführerin so weit wie möglich schwarz arbeiten. Ihr Honorar muss sie der Finanz nicht melden, das Amt geht ja davon aus, sie arbeite bei der Firma XY.
Der Vater von Ferencz hat eine kleine Firma mit einigen Angestellten. Die werden mit dem Mindestlohn von 250 Euro angemeldet, den Rest bekommen sie schwarz ausgezahlt. "Mein Vater ist nicht der einzige Kleinunternehmer, der so vorgeht."
Korruption ist das tägliche Spiel. Selbst in Krankenhäusern muss man die Krankenschwestern "schmieren", um zu einem frischen Leintuch zu kommen. In Restaurants kommt es gar nicht selten vor, dass man den Kellnern ein Extra-Trinkgeld zukommen lassen muss, damit er ein Besteck bringt.
Mangelware
Sabine Szabo unterrichtet an der Kooperationsschule HAK Frauenkirchen/Fertöd wirtschaftliche Fächer. Auch sie kommt nicht gerade ins Schwärmen, wenn es um die ungarischen Verhältnisse geht. Überall fehle es an Geld: Wenn in einer Schule Sesseln gestohlen werden, können keine neuen gekauft werden. Sogar Ringmappen sind Mangelware.
Szabo hat eine halbe Lehrverpflichtung von elf Stunden und bekommt 280 Euro brutto. Auch sie fragt sich beinahe täglich, "wie sich das ausgehen soll. Es reicht nicht zum Leben. Fast jeder Lehrer in Ungarn hat deshalb einen Zweitjob."
In ihrer Heimat kauft Sabine Szabo längst nicht mehr ein. Sie fährt lieber nach Österreich, "denn dort ist es deutlich günstiger". Lediglich Wasser und Strom sind in Ungarn weit billiger: "Das brauche ich zwar zum Leben, aber davon leben kann ich auch nicht."
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