Russland: Politiker im Talar
Von Ketzerei war die Rede, von Rowdytum – doch plötzlich gibt es Hoffnung für die drei angeklagten Sängerinnen der feministischen Aktionsgruppe Pussy Riot. Beim Besuch der Olympischen Spiele in London äußerte sich Russlands Präsident Wladimir Putin erstmals persönlich zu dem Fall der drei Frauen, die knapp vor seiner Wiederwahl in das höchste Staatsamt lauthals in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale die Gottesmutter Maria um seine Vertreibung gebeten hatten. Und Putin gab sich überraschend milde, sagte, er hoffe, dass die drei aus ihrem Fehler gelernt hätten. Er hoffe auf ein mildes Urteil des Gerichts.
Zwei der drei Angeklagten sind junge Mütter. Dass sie seit März wie Schwerkriminelle in Untersuchungshaft sitzen, erregt sogar bei Menschen Unmut, die das aktionistische Punk-Gebet der drei Frauen absolut unangebracht fanden. Und so schlägt jetzt auch die Russisch-orthodoxe Kirche, die bisher unnachgiebig die Höchststrafe von sieben Jahren für Maria Aljochina (24), Nadeschda Tolokonnikowa (22) und Jekaterina Samuzewitsch (29) gefordert hatte, sanftere Töne an: Von einer "sehr dummen" und "verletzenden" Aktion sprach zuletzt der Chefideologe des Moskauer Patriarchats, Wsewelod Tschapli. Und weiter: "Aber es ist auch eine Dummheit, darüber unendlich zu sprechen."
Es wirkt beinahe so, als hätten sich Kreml und Klerus geeinigt – wieder einmal. Kreml und Kirche, das ist ein Gespann, das Russen wie Beobachter von außen sehr unterschiedlich in ihrem Kräfteverhältnis bewerten. Da ist die eine Wahrnehmung: Das russische Patriarchat als williges Werkzeug der Außenpolitik, das russische Interessen in der Ukraine, Moldawien oder Weißrussland vehement vertritt.
Beispiel Ukraine: Dort hat sich im Lauf der Jahre eine komplette Aufspaltung der Kirchen ergeben. Heute existieren die ukrainische Orthodoxie unter dem Moskauer Patriarchat, das von Moskau nicht anerkannte Kiewer Patriarchat, die mit der katholischen Kirche unierten griechischen Katholiken sowie direkt dem Moskauer Patriarchat unterstehende Gemeinden, die in diesem Chaos zunehmend Einfluss gewinnen – was auch den Kreml freut. Die Kirche als geopolitisches Werkzeug.
Und das ist die andere Wahrnehmung: Die russisch-orthodoxe Kirche als mächtige Institution, die letztlich die ethischen Agenden der nationalen Politik bestimmt, die dem öffentlichen Schulsystem ihren Willen aufdrückt und – wie jetzt – einen Prozess gegen drei Frauen vorangetrieben hat, denen nichts anderes vorgeworfen werden kann als Ketzerei. Und dagegen gibt es laut den Anwälten von Pussy Riot keinen Paragrafen. Darum lautet die Anklage auch auf Hooliganismus, motiviert durch religiösen Hass. Ein Tatbestand, der nahe am religiös motivierten Terrorismus vorbeischrammt. Säkulare Menschenrechtler in Moskau sprechen daher auch von einem Prozess der Schande.
Protest-Tradition
Dabei hat die russisch-orthodoxe Kirche zumindest an der Basis durchaus eine Protestkultur. Punkrock und Kirche, Protest und Gebet – was aus westeuropäischer Sicht wie ein Widerspruch klingt, war in Russland sehr lange keiner. Das Bittgebet der Pussy-Riot-Aktivistinnen an die Gottesmutter Maria, die Staatsmacht auszuhebeln, sieht manch einer, der sich in den 80er-Jahren in jugendlichem Feuereifer gegen den Staat auflehnte, heute in ironischem Tonfall als Fortsetzung einer russischen Kirchentradition.
Hergeleitet aus den letzten Jahren der Sowjetunion, als Punk, Revolte und Rockmusik auch hieß, christliche Lieder zu singen, und als langhaarige Wutbürger den Kirchgang als Protestkundgebung gegen ein System verstanden, in dem Religion als Opium fürs Volk und religiöse Selbstbestimmung bestenfalls geduldet wurden.
"Silber meines einzigen Herrn, Silber meines Herrn, ein einziges Wort, Dir zu sagen, ich wüsste es nicht, Silber meines einzigen Herrn, Silber meines Herrn, ferner als Worte, ferner als Sterne" – es waren Musiker wie Boris Grebeschnikow von der Band Akwarium etwa, bei denen Religiosität und Protestkultur kein Widerspruch waren. Und er war bei weitem nicht der einzige.
Wobei die Kirchenleitung zugleich alles tat, um sich mit den Sowjets zu arrangieren. "Es war unglaublich", erzählt Alexander Baunow, ein Journalist, der die Zeit als Jugendlicher erlebt hat. "Ende der 80er-Jahre, Anfang der 90er-Jahre waren die Kirchen voll mit jungen Leuten." Und heute? "Die Kirche hat ihre Chance verpasst", meint er. "Sie hat nicht auf die Intellektuellen gehört, von denen ihnen damals sehr viele sehr nahegestanden sind."
Stattdessen habe sich der Klerus mit dem Kreml in ein politisches Machtspielchen begeben – und genießt dadurch bereits einen ähnlich korrupten Ruf wie die gesamte russische Führung.
Russische Orthodoxie: Machtfaktor
Als Ausgangspunkt der slawischen Orthodoxie wird die Taufe von Wladimir I. im Jahr 987 in Kiew gesehen – daher auch die Konflikte zwischen dem Kiewer Patriarchat und dem Moskauer Patriarchat. Kiew blieb bis ins späte Mittelalter religiöses Zentrum der orthodoxen Welt. Erst 1589 wurde das Moskauer Patriarchat gegründet. Bereits 1721 wurde es aber bereits wieder abgeschafft, durch eine Synode ersetzt und erst 1917 wieder eingeführt.
Erst wurde die Kirche hart verfolgt. Nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR 1941 änderte sich das. Die Kirche wurde geduldet, stand aber unter Kontrolle. Metropoliten übten sich in patriotischen Brandreden. Später wechselten Repressalien und Duldung einander ab.
Heute zählt die Kirche rund 100 Millionen Gläubige. Zahlreiche pompöse Sakralbauten wurden seit dem Fall der Sowjetunion realisiert.
-
Hintergrund
-
Hintergrund
Kommentare