Herr Sobotka, die EU wird sich nach dem Austritt der Briten intern neu aufstellen. Welche Rolle kann Österreich in diesem neuen Gefüge spielen?
Sobotka: Die 25 Jahre bei der EU haben auch ein neues Selbstverständnis Österreichs geweckt. Das sieht man an verschiedenen politischen Initiativen – etwa die Unterstützerrolle, die Österreich für den Beitritt der Balkanländer einnimmt. Oder auch die Rolle, die Österreich bei den Ländern, die erst 2004 beigetreten sind, hat. Hier können wir Vermittler zwischen dem traditionellen Europa und jenen Ländern sein, die zuerst mit großer Euphorie nach Europa gingen und jetzt die eine oder andere Maßnahme gegen die Grundlinie Europas umgesetzt haben. Hier ist es notwendig, auf der einen Seite das rechtsstaatliche Bewusstsein Europas in Erinnerung zu rufen und auf der anderen Seite Verständnis für die Standpunkte dieser Länder aufzubringen. Europa braucht Österreich und Österreich braucht Europa. 25 Jahre nach dem Beitritt sind wir ein Mitglied geworden, das jetzt mit und ohne Brexit eine neue Rolle übernehmen kann.
Gerade der Brexit zeigt, dass die EU bei den Menschen noch nicht ankommt. Was muss sich ändern, damit der EU-Spirit greifbar wird?
Sobotka: Der Geist für Europa wurde leider etwas aus den Augen verloren. Dort, wo Europa erfahrbar werden kann, muss es endlich mit einer Stimme sprechen. Da denke ich vor allem an eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dann hätten die Menschen mehr Bewusstsein für dieses Europa. Auf der anderen Seite braucht es mehr Subsidiarität. Also mehr Entscheidungsmöglichkeiten für die Nationalstaaten und auch auf regionaler Ebene.
Portisch: Das kommt auch auf die Persönlichkeiten an. Wenn die Kommission mit attraktivem Politikern besetzt wird, die auch wissen, dass sie zu den Menschen sprechen müssen, dann wird auch der europäische Gedanke attraktiver. Aber wenn die Kommission zurückhaltend ist, dann geht die Emotion verloren.
Sehen Sie solche Persönlichkeiten?
Portisch: Das europäische Personal ist nicht gerade hervorragend ausgestattet. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist eine sehr sympathische Person, aber sie hat sehr schmale Schultern für das große Europa.
In Europa gibt es im Europäischen Rat das Einstimmigkeitsprinzip. Würde ein Mehrheitsstimmigkeitsprinzip die EU flexibler machen?Portisch: Dieses Einstimmigkeitsprinzip ist sehr lähmend. Die Abstimmungsprozeduren sollten endlich renoviert werden. So wie es sie jetzt abläuft, steht sich Europa immer selbst im Weg.
Beim Schengen-Abkommen und beim Euro gibt es bereits ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Wäre das ein Modell auch für andere Maßnahmen?
Sobotka: Mehrere Geschwindigkeiten sind immer die Ausgangslage für nächste Konflikte. Das würde ich nicht unterstützen. Ich denke, man kann bei 27 Ländern nicht erwarten, dass immer alle an einen Strang ziehen. Je nach der Materie sollte auch eine Zwei-Drittel- oder Drei-Viertel-Mehrheit reichen. Gerade in der Weltpolitik schwächt sich Europa mit dem Einstimmigkeitsprinzip, denn gerade gegenüber China und den USA braucht es in vielen Fragen eine sehr schnelle und klare Antwort.
Eine zweite Amtszeit von Donald Trump ist realistisch, braucht es einen EU-Außenminister?
Sobotka: Es braucht einen Außenminister, der außenpolitisch nicht nur die Fragen adressieren kann, sondern auch die Möglichkeit hat, Maßnahmen zu setzen.Portisch: Das wäre keine schlechte Idee, wenn Europa einen erfahrenen Politiker oder Diplomaten hätte, der in der Lage ist für Europa zu sprechen. Diese Person muss aber auch in der Lage sein, innerhalb der Kommission die Staaten auf einander abzustimmen. Er muss ein politisches Gewicht haben. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wie der Ukraine-Konflikt sich entfalten konnte, ohne dass Europa dazwischen getreten ist. Die Ukraine gehört zur Europa, aber Putin hat sich dagegen quer gelegt.
Die Russen waren laut dem damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky auch „der größte Brocken“ bei der Überzeugungsarbeit, als Österreich EU-Mitglied vor 25 Jahren wurde ...
Portisch: Als 1957 die EWG-Verträge in Rom unterschrieben wurden, war ich im Bundeskanzleramt auf einen Kaffeeplausch mit Kanzler Julius Raab (ÖVP). Damals sagte er zu mir: „Also, wir gehen dazu.“ Da fragte ich: „Wozu, Herr Bundeskanzler?“ „Na, zur EWG“, meinte er. Ich fragte: „Was sagen die Russen dazu?“ Da meinte Raab: „Die werden nicht gefragt.“ Das Veto kam aber prompt von den Russen. Für sie war das ein Bruch des Staatsvertrages. Die Russen hätten das als Anschluss an Deutschland gesehen. Die Sowjetunion musste erst Pleite gehen und zusammenbrechen, dass Österreich EU-Mitglied werden konnte.
Wird die EU 2030 mehr oder weniger Mitglieder haben? Sobotka: Europa muss stark sein, um zukünftige Austritte zu verhindern. Das stärkste ist das wirtschaftliche Argument. Das zeigt sich auch bei Österreich. Auch die Finanzkrise hätte ohne die EU nicht so gut bewältigt werden können. Sowohl Portugal als auch Griechenland wären ohne EU nicht mehr in der Lage gewesen, sich auf wirtschaftliche gesunde Beine zu stellen.
Portisch: Durch den Brexit hat man gesehen, dass der Austritt sehr schwierig ist. Das war eher ein abschreckendes als ein ermunterndes Beispiel. Aber das Zusammendenken und das Zusammenstehen innerhalb Europas ist sehr schwierig. Momentan haben wir eine instabile Lage in Europa. Denn wo bleibt Russland? Ohne Russland geht in Europa fast nichts. Aber es kümmert sich niemand um Russland. Die Amerikaner sehen die Russen immer noch als Feind und es wird von der NATO eingekreist. Man denkt, das wird sich Russland schon gefallen lassen. Das ist ein Fehler.
Bei der Volksabstimmung über den EU-Beitritt stimmten 66 Prozent der Österreicher mit „Ja“. Ein überraschendes Ergebnis, denn die Abstimmung galt als Zitterpartie. Haben Sie auch gezittert?
Portisch: Es gab viele Einwände gegen den Eintritt. Ich habe diese 14 Tage lang jeden Abend im ORF zerpflückt. Als das Ergebnis bekannt gegeben wurde, war ein Zelt vor dem Bundeskanzleramt aufgebaut. Ich war damals dort und traute meinen Ohren nicht, weil Erhard Busek (ÖVP) und Franz Vranitzky (SPÖ) gemeinsam vor Freude die Internationale (Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung) sangen.
Sobotka: Weil sie die Europahymne damals noch nicht gekannt haben (lacht).
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