Wilhelm Molterer: "Wir sind nicht genug wach und mutig"
In einem Monat finden die EU-Wahlen statt. In unserer KURIER-Wahlserie "25 Jahre Ja zur EU" sprachen wir mit Ex-ÖVP-Chef Wilhelm Molterer.
KURIER: Herr Magister Molterer, was war ihre erste persönliche Begegnung mit dem Thema Europa?
Wilhelm Molterer: Das war am 21. August 1968. Ich war 13 Jahre alt, meine Mutter hat mich in der Früh aufgeweckt und hat gesagt, die Russen kommen (Einmarsch sowjetischer Truppen in der damaligen Tschechoslowakei zur Niederschlagung des Prager Frühlings). Meine Mutter – sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg in einer russisch besetzten Zone aufgewachsen – ist plötzlich in Tränen ausgebrochen. Da ist mir erstmals klar geworden, wie wichtig es ist, zur demokratischen und freien westlichen Welt zu gehören. Das zweite Schlüsselerlebnis waren meine ersten Reisen in den damals noch kommunistischen Osten. Als ich im Mai 1975 das erste Mal in Prag war, war alles rot beflaggt und es war kein Hotelzimmer zu bekommen. Es war alles voll mit sowjetischen Soldaten, weil in Prag "30 Jahre Befreiung durch die Glorreiche Rote Armee" gefeiert wurde. Die Leute am Wenzelsplatz waren alles andere als glücklich, sie waren traurig, verschreckt und verbittert. Oder die Schikanen am Check-Point-Charlie durch die VOPOs der DDR (Volkspolizisten am westdeutschen Grenzübergang in Berlin zum Ostteil in der "Deutschen Demokratischen Republik").
Das sind eindrucksvolle Beispiele für den damaligen Gegensatz zwischen Ost und West, aber was hat das mit der Europa-Idee zu zun?
Das hat mich mehr geprägt als alles andere, weil ich gesehen habe, was Unfreiheit, Grenzen und Unterdrückung heißen kann. Und welche Kraft Freiheit und Demokratie entfalten kann. Das vereinte Europa hat in den Jahren nach 1989 den damaligen Warschauer-Pakt-Staaten den Weg gewiesen – Freiheit und Demokratie war das Ziel. Ohne vereintes Europa wäre die Geschichte nach 1989 anders verlaufen. Dafür lohnte es sich zu kämpfen.
Die Spaltung Europas in zwei feindliche Lager und der Kalte Krieg sind zwar erst ein paar Jahrzehnte her, aber für junge Leute so weit weg wie der Zweite Weltkrieg. Und damit nur bedingt geeignet, um Europa heute attraktiv zu machen.
Wenn ich mit jungen Leuten über die Geschichte der EU diskutiere, dann ist das für sie so weit weg wie das Römische Reich. Sie sind nicht mit der alten Formel, die EU brachte uns Friede, Freiheit und Wohlstand, zu gewinnen, sondern nur mit Antworten auf ihre heutigen Fragen. Kämpft Europa ambitioniert genug gegen den Klimawandel? Behält Europa eine starke Position im globalen Wettbewerb, politisch und wirtschaftlich? Mit China, der Türkei, Russland und der USA gibt es andere gesellschaftspolitische Modelle. Sind wir schnell und ambitioniert genug? Europa ist gegenüber den USA und Asien ins Hintertreffen geraten. Wir bilden in Europa sehr gut aus, sehr viele gute Leute verlassen Europa, wenn man sich beispielsweise im Silicon Valley umschaut. 85 Prozent der Investitionen in Artificial Intelligence passieren in den USA und Asien, nur 15 Prozent in Europa. Wir sind hier nicht genug wach, schnell und mutig. Wir diskutieren das Risiko so lange, bis die Chance weg ist.
Für einen neuen EU-Spirit braucht es auch EU-Leitfiguren. Wer ist das heute in Europa?
Eine ist Emanuel Macron. Er ist einer, der Mut hat und die Dinge vorantreiben will. Sebastian Kurz ist eine weitere, weil er Tabus bricht und hemmende Strukturen beseitigen will, verändern will. Beide sind proeuropäische Leitfiguren. Ich glaube generell, dass wir auch in Europa vor einem Generationswechsel stehen, wo in den nächsten fünf Jahren ganz neue, heute noch unbekannte jüngere Leute führen werden, hoffentlich sind viel mehr Frauen dabei. Das ist eine Generation, die Europa nicht nur aus der Geschichte heraus begründet, sondern nach vorne blickt, und mit dieser Zukunftssicht die antieuropäischen Kräfte bekämpfen wird.
Zur Person: Der ÖVP-Bauer als Milliarden-Jongleur
Wilhelm Molterer, 64, startete seine Karriere im ÖVP-Bauernbund, war Landwirtschaftsminister und zuletzt ÖVP-Chef und Vizekanzler. 2011 startete er eine zweite Karriere: Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank (EIB). 2015 wurde er Direktor des EFSI, 2018 für weitere drei Jahre bestätigt. Der EFSI haftet im Rahmen des „Junckerplans“ für Investitionen in Innovations- und Infrastrukturprojekte in und außerhalb der EU. Garantiesumme zuletzt 33 Milliarden Euro.
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