Debatte um Kanzler-Besuch: "Zusammenrücken war der Emotion geschuldet"
Hunderte Menschen, viele halten das Handy in die Höhe, wollen Selfies mit ihm. Jubel und Fahnenschwenken.
Kanzler Sebastian Kurz ist diesen Trubel um seine Person gewohnt, wenn er in Österreich unterwegs ist. Doch dass sich solche Szenen am Mittwoch im Vorarlbergerischen Kleinwalsertal abspielten, löste eine heftige Kontroverse aus - Anzeige bei der Polizei und parlamentarische Anfrage inklusive.
Erster Außentermin von Sebastian Kurz nach 10 Wochen
Denn: Eigentlich müssen die Menschen ja einen Meter Abstand zueinander halten. Eigentlich dürfen in der Öffentlichkeit nur maximal zehn Personen auf einem Fleck sein. Eigentlich soll man vorsichtshalber Mundschutzmasken tragen. Eigentlich soll man sich an all das halten, um eine Ausbreitung des Coronavirus zu vermeiden.
Nichts davon wurde eingehalten, zeigen Bilder von jenem Abend in der Vorarlberger Gemeinde Mittelberg, die in den sozialen Medien kursieren.
"Als Unternehmer fühlt man sich gefrotzelt. Geschäfte und Gastronomie dürfen nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen aufsperren", sagt Neos-Abgeordneter Sepp Schellhorn. "Seit Wochen predigt der Kanzler, dass es hunderttausende Tote gibt, wenn sich die Bevölkerung nicht daran hält. Und dann hält er sich selbst nicht daran."
Neos lassen von Anzeige ab
Schellhorn kündigte an, er werde Kurz anzeigen - und auch Innenminister Karl Nehammer in die Pflicht nehmen. "Er hat immer gesagt, es wird hart gestraft, wenn sich die Menschen über die Regeln hinwegsetzen. Da sind wir jetzt gespannt", sagte er am Donnerstagvormittag noch zum KURIER.
Im Laufe des Tages überlegte es sich Schellhorn aber doch anders: Er werde "nicht dutzende Private mit Anzeige konfrontieren, nur damit sich Kurz weiter an ihnen abputzen kann", schreibt er auf Twitter. Stattdessen werde er anfragen, ob eine Veranstaltung bzw. eine Kundgebung genehmigt worden war.
Das Kanzleramt erklärte bereits am Mittwoch am Abend, man habe sich im Vorfeld darum bemüht, von Bewohnern und Medienvertretern sei aber „teilweise der Mindestabstand leider nicht eingehalten“ worden.
Betont wird grundsätzlich: "Egal ob man den Bundeskanzler oder Freunde auf der Straße trifft: Der Abstand ist einzuhalten.“ Mit der Maske halte es Kurz in den Bundesländern nicht anders als in Wien: Bei Bewegungen in geschlossenen Räume trage er Mund-Nasen-Schutz, im Freien nicht.
Ein Erklärungsversuch
Aber wie kam es überhaupt zu dieser Menschenansammlung? Der KURIER fragte im Büro von Landeshauptmann Markus Wallner, der den Besuch des Kanzlers begleitete, nach.
Zuerst muss man die Lage vor Ort beschreiben: Das Kleinwalsertal gehört zwar zu Vorarlberg, ist aber nur über Deutschland zu erreichen. Nachdem die Grenzen geschlossen sind, waren die rund 5.000 Einwohner von Mittelberg de facto in ihrer Gemeinde eingesperrt. Wochenlang. Und das, obwohl der letzte Covid-Erkrankungsfall schon mehr als ein Monat her war.
Als gestern, Mittwoch, bekannt wurde, dass die Grenzkontrollen gelockert werden und am 15. Juni ganz wegfallen, dürfte das für die Gemeinde eine große Erleichterung gewesen sein. Beim Besuch des Kanzlers habe sich diese Freude "entladen", schildert ein Sprecher von Landeshauptmann Wallner, der vor Ort war.
Von Menschenmassen überrascht
Der Besuch im Walserhaus war als Arbeitsgespräch im kleinen Kreis mit Vertretern der regionalen Wirtschaft und des Tourismus gedacht. Im Vorfeld hatte der Bürgermeister von Mittelberg via Facebook über den Kanzler-Besuch informiert.
Wegen der Corona-Maßnahmen konnte es kein Fest geben, wie man es sonst bei einem Kanzler-Besuch veranstalten würde, und der Bürgermeister wies darauf hin, dass es auch keinen Kontakt zur Tal-Bevölkerung geben kann. Er regte aber an, dass die Bevölkerung als Willkommensgruß Fahnen aus dem Fenster halten könnte.
Das wurde aber korrigiert, sagt sein Sprecher. Es wurde darum gebeten, das zu unterlassen. Die Menschen taten es dann doch - teilweise. Und manche taten noch mehr.
Als die Autos der Kanzler-Entourage durchs Tal fuhren, seien schon einige Bürger am Straßenrand gestanden, im Ortszentrum traf man dann auf eine Menschenansammlung. Das Landeshauptmann-Büro schätzt die Zahl auf 150 bis 200.
Betont wird, das sei "nicht geplant" und auch "nicht erwünscht" gewesen. Man habe es dann aber auch nicht mehr unterbinden können.
Auf dem Weg von der Ausstiegsstelle zum Eingang des Gemeindezentrums seien die Versuche, die Menschen auf die Abstandsregeln aufmerksam zu machen, großteils ins Leere gegangen.
Die Gemeinde habe sogar Zettel verteilt, auf denen in fetter Schrift geschrieben stand, die Bürgerinnen und Bürger mögen zueinander Abstand halten oder Masken tragen, wenn dies nicht möglich sei.
Am Arbeitsgespräch selbst, das dann im Gemeindezentrum stattfand, hätten aber nur zehn Personen teilgenommen, betont der Landeshauptmann-Sprecher. "Sie haben alle Masken getragen und zueinander Abstand gehalten."
Bürgermeister bittet um Verständnis für Emotionen
Ganz ähnlich schildert auch Andreas Haid, Bürgermeister von Mittelberg, die Geschehnisse: Er ersucht in einer Aussendung am Donnerstagnachmittag um Verständnis. "Das Zusammenrücken war der Emotion geschuldet", betont Haid.
Er verweist auf die Flugzettel, die verteilt wurden. Zuerst hätte sich die Bevölkerung auch daran gehalten, als der Kanzler eintraf, seien die Leute dann doch "zusammengelaufen".
Aber nicht nur die versammelte Bevölkerung, auch "die TV-, Online- und Printjournalisten rackerten um die besten Plätze, ohne jede Rücksicht auf irgendeine Abstandsregelung", sagt Haid. Während der Bundeskanzler vom Auto zum Mikrofon ging, habe er mehrmals gerufen: "Bitte Abstand halten", was die Medienvertreter laut Bürgermeister aber ignorierten.
Die Begeisterung für Kurz sei nicht parteipolitisch motiviert gewesen, so Haid, der im Namen einer Bürgerliste Politik macht. Die Bevölkerung sei einfach froh, dass die Zeit der Abriegelung nun vorbei sei: "Die Leute wären auch bei jedem anderen Bundeskanzler dort gestanden."
Warum handelte die Polizei nicht?
Nun gibt es in den sozialen Netzwerken heftige Debatten - und es wird die Frage aufgeworfen:
Warum hat die Polizei die Ansammlung nicht unterbunden? In Wien wurden Demonstrationen von Corona-Gegnern aufgelöst, weil die Abstandsregeln nicht eingehalten wurden. Aus dem Innenministerium heißt es zum KURIER, man werde der Sache nachgehen.
Die Polizei in Vorarlberg erklärt dazu, dass es sich beim Besuch von Kurz um einen Medientermin gehandelt habe. Deshalb habe man auch keinen Auftrag gehabt, den Termin zu überwachen.
Opposition empört
Empört reagierten am Donnerstag auch SPÖ und FPÖ:
Was in puncto Abstandsregeln für alle gelte, müsse auch für den Kanzler gelten, mahnten beide Parteien. Kurz sei jetzt eindeutig ein „Lebensgefährder“ - noch dazu, wo in der Menge viele ältere Menschen gewesen seien, befand FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl.
Diesen Terminus hatte Kurz' Parteikollege und Innenminister Karl Nehammer gebraucht, erinnerte Kickl, der die gesamte Regierung der „Heuchelei und Doppelmoral“ bezichtigte. Kurz ignoriere „munter seine eigenen Vorgaben, obwohl ja angeblich die Apokalypse über Österreich hereinbricht, wenn man dem Wort des Kanzlers nicht buchstabengetreu Folge leistet“.
Die SPÖ echauffierte sich in einer Aussendung über die „Skandalbilder“ aus Vorarlberg und die „Verhöhnung der Bevölkerung“. „Seit Wochen werden Leute mit hohen Geldsummen bestraft, die sich nicht an die Abstandsregeln halten, in Wien wurden vom Bund riesige Parkanlagen gesperrt, tausende Menschen arbeiten den ganzen Tag mit Atemschutz“, sagte Vizeklubchef Jörg Leichtfried. Doch „wenn der Kanzler meint, er muss einen Show-Auftritt machen, ist alles egal?“, fragte er.
Leichtfried kündigte eine parlamentarische Anfrage gemeinsam mit SPÖ-Sicherheitssprecher Reinhold Einwaller an. Es stelle sich die Frage nach der Organisation im Vorfeld. „Wir wollen vom Gesundheitsminister auch wissen, ob die zuständige Bezirkshauptmannschaft Bregenz davon gewusst hat und Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden“, erklärte Leichtfried.
Nehammer soll zum Vorgehen der Polizei befragt werden. „Dieser Skandal gehört aufgeklärt“, forderten die beiden SPÖ-Abgeordneten.
Gesundheitsminister Rudolf Anschober reagierte bei einer Pressekonferenz zurückhaltend auf die mehrmalige Nachfrage von Journalisten, was er von den Bildern aus dem Kleinwalsertal halte.
Er erläuterte nur allgemein, wie wichtig es sei, jetzt eine zweite Infektionswelle zu vermeiden und fügte hinzu: „Das gilt für ganz Österreich.“
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