Wechselwählern auf der Spur: Hochrechnung in die Vergangenheit

Symbolbild
Wie Forscher das Geheimnis der Wechselwähler seit 1919 gelüftet haben.

Wir schreiben den 25. April 1983: Die Österreicher haben wieder einmal einen Nationalrat gewählt. Und im ORF läuft ein eineinhalb Minuten langer Beitrag, in dem Ferdinand Krenn den Zusehern erklärt, was eine Wählerstromanalyse ist. Durchgeführt wurde sie von Erich Neuwirth vom Institut für Mathematik und Statistik. 1986, bei der nächsten Nationalratswahl, brachte Josef Broukal den Österreichern das komplizierte Verfahren dann nahe.

Damals war die Wählerstromanalyse Neuland, brachte den Sozialforscher Günther Ogris aber auf eine Idee: Wir wäre es, wenn man auch historisches (Wechsel-)Wahlverhalten errechnen könnte, dachte der heutige SORA-Geschäftsführer.

100 Jahre Wahlrecht waren ein willkommener Anlass, die Idee im Rahmen eines Forschungsprojekt in die Tat umzusetzen. Und so präsentierte man am Montag am Wiener Heldenplatz, im Haus der Geschichte Österreich (hdgö), wie die Österreicher wann gewählt haben.

Historische Daten

Bisher lagen die Wählerströme, also die Wanderungen der Wähler von einer Wahl zur nächsten, nur für die Wahlen der jüngeren Geschichte vor. Fragt man den hdgö-Historiker Stefan Benedik, woher die Forscher nun wissen wollen, wer 1919 oder 1927 was gewählt hat, antwortet er: „Das ist unglaublich interessant und ebenso kompliziert. Ganz vereinfacht gesagt, haben die Kollegen von Sora Sprengel-Ergebnisse, die in den Tausenden Gemeinden noch aufliegen, hergenommen und mit den sozialen Daten (z.B. wer ist Arbeiter, wer Unternehmer) verglichen.“ Es sei dasselbe Verfahren, auf dem moderne Hochrechnungen beruhen.

Wechselwählern auf der Spur: Hochrechnung in die Vergangenheit

„So ist es diesem Forschungsprojekt gelungen, eine Lücke zu schließen, indem die Wählerstromanalysen der Ersten und Zweiten Republik rückgerechnet wurden“, ergänzt hdgö-Direktorin Monika Sommer und präsentiert die Ergebnisse in ihrem Museum. Ab sofort können sich Besucher des hdgö über ein digitales Modul in der Ausstellung „Aufbruch ins Ungewisse – Österreich seit 1918“ in die die aufbereiteten Daten vertiefen. Spannend und teils lustig wird es, wenn man Bild- und Videomaterial rund um die verschiedenen historischen Wahlabende (Stichwort Broukal und die erste Wählerstromanalyse) anklickt. Im Herbst sollen die Daten auch online zur Verfügung gestellt werden.

Schon immer flexibel

So viel ist bekannt: Bis in die 1970er Jahre weisen die Wählerstromanalysen etwa 80 bis 90 Prozent aller Wähler als „konstante Parteiwähler“ aus. Sommer: „Ja, Österreich war bis dahin relativ stabil, was die beiden Blöcke betrifft. Aber bei den Analyse der Daten zeigte sich eine gewisse Flexibilität. Es gab also immer Bewegung – mehr als die Wahlergebnisse vermuten ließen.“

Wechselwählern auf der Spur: Hochrechnung in die Vergangenheit

Überraschendes

„Auch was das große Segment der Nicht-Wahlberechtigten nach dem Krieg, die so genannten Ehemaligen („Minderbelastete“, ehemalige NSDAP-Mitglieder), die erst bei der zweiten Wahl 1949 wahlberechtigt waren, wählten, wussten wir nur ungefähr“, sagt Historiker Benedik. Dank der Forschungen von Sora gebe es jetzt erstmals Zahlen, wo die 940.000 (darunter auch Kriegsfangenen und Flüchtlinge) ihr Kreuz machten: Je 31 Prozent wählten ÖVP und SPÖ, 24 Prozent die WdU (Wahlpartei der Unabhängigen, Vorgängerin der heutigen FPÖ).

Die größte Überraschung war für Historiker Benedik aber die Analyse der Wahl 1956. Damals trat die FPÖ zum ersten Mal an. „Unsere Annahme war immer, dass ein Kern der WdU-Wähler auch zur FPÖ geht. Doch jetzt stellte sich heraus, dass das gar nicht der Fall war. Sie haben verstärkt aus dem Nichtwählerbereich Anhänger lukriert. Die FPÖ scheiterte nach ihrer Gründung also daran, die WdU-Wähler zu mobilisieren.“ Grund: „Interne personelle Streitigkeiten, die das deutschnationale Lager seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts prägen.“

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