"Sozialstaat ist nicht überholt, aber überholungsbedürftig"

KURIER-Doppelinterview mit Bernd Marin und Emmerich Talos
Was muss passieren, damit das Sozialsystem finanzierbar bleibt? Bernd Marin und Emmerich Tálos im KURIER-Doppelinterview.

Hat der Sozialstaat im 21. Jahrhundert noch Zukunft? Und wenn ja, wie soll er sich in Zeiten der Digitalisierung finanzieren? Der KURIER bat den Pensionsexperten Bernd Marin und den auf Sozialpartnerschaft und -staat spezialistischen Politikwissenschafter Emmerich Tálos zum Gespräch.

KURIER: Der niederländische König hat schon vor Jahren bei seiner Antrittsrede gesagt: Der Sozialstaat ist am Ende, Bürger und Banken müssen ihre Bilanzen in Ordnung bringen. Die Niederlande gelten bisweilen als Vorbild, daher die Frage: Können wir uns den Sozialstaat bald nicht mehr leisten?

Bernd Marin: Der Sozialstaat ist nicht überholt, aber überholungsbedürftig. Auch wir brauchen Reformen wie die Niederlande. Dort wurden etwa die Neuzugänge zur Berufsunfähigkeit um zwei Drittel reduziert. Der Unterschied zu Österreich: Die Holländer wussten genau, wo sie hinwollen und was sie dafür tun müssen – wie bei allen erfolgreichen Reformen in Schweden, Deutschland und Dänemark. In Österreich haben wir selbst zu Existenzfragen keinerlei Grundkonsens und keine messbaren Ziele. Daher können wir sie weder erreichen noch verfehlen – und das ist leider typisch. Wir sind eben ein Operettenstaat.

Der Sozialstaat ist also nicht am Ende, es fehlt nur die ernsthafte Reform?

Marin: So ist es, wobei ich lieber – weniger paternalistisch – von der Wohlfahrtsgesellschaft rede. Massenarbeits- und -Erwerbslosigkeit sind mit ihr unvereinbar. Wir haben in der EU 20 Millionen Arbeitslose plus weitere 100 Millionen Inaktive im Erwerbsalter. Wir Österreicher sind durchschnittlich 47,5 Jahre in Ausbildung und Ruhestand und während des Arbeitslebens nochmals 13 bis 18 Jahre bezahlt nicht in Arbeit. Das kann sich nicht ausgehen.

Emmerich Tálos: Ich stimme mit Marin überein: Der Sozialstaat ist nicht am Ende, geschweige denn der österreichische. Der breit ausgebaute Sozialstaat war und ist ein wesentlicher Faktor für die Verbesserung der Lebensbedingungen breiter Teile der Bevölkerung. Aber jedes System bedarf von Zeit zu Zeit der Überprüfung. Unsere Sozialpolitik war anfangs konzentriert auf die Arbeiter, wurde später auf alle Erwerbstätigen ausgeweitet. Diese Fokussierung reicht heute nicht mehr.

Inwiefern? Wir haben immer mehr Erwerbslose und es gibt Risiken, die nicht absehbar waren.

Wie etwa die Pflege?

Marin: So ist es. Was sich gerade um die Abschaffung des Pflegeregresses abspielt ist, pardon, verlockender populistischer Holler. Es wird Kostensteigerungen, ungerechte Rationierungen und schäbige Anreize zu Sozialakrobatik geben.

Tálos: Tatsächlich war die Pflege-Problematik in den 50er-Jahren kein Thema! Anders als Marin halte ich die Abschaffung des Pflegeregresses für eine äußerst wichtige Maßnahme. Die Finanzierungsstruktur aus dem 19. Jahrhundert ist überholt und hier müssen wir etwas tun. Zum Beispiel, indem wir den alten Modus des Unternehmerbeitrags zur Sozialversicherung reformieren. Wissen Sie, wer der Erste war, der für eine derartige Änderung eingetreten ist?

SPÖ-Sozialminister Dallinger?

Tálos: Eben nicht. Es war Dollfuß. Angesicht der unglaublichen Arbeitslosigkeit in den 30er-Jahren hat er in seiner berühmten Rede am Trabrennplatz 1933 argumentiert, dass Betriebe nicht dafür bestraft werden dürfen, wenn sie Menschen einstellen, und andere begünstigt werden, wenn sie anstatt Menschen Maschinen einstellen.

Dollfuß hat in den 1930ern die Maschinensteuer gefordert?

Tálos:So könnte man es sagen. Angesichts der Digitalisierung ist es jedenfalls völlig absurd, wenn wir diese Diskussion heute nicht führen.

Marin: Da bin ich bei Tálos. Die Finanzierung ist in einer Roboterökonomie etwa über Energie- und Datentransfersteuern zu lösen. Derzeit verhindern allein die milliardenschweren Frühpensionsdefizite und 90 Prozent Ruhestand vor dem 65. Lebensjahr nötige Reformen bei Bildung, Gesundheit und Pflege.

Was müsste man an Ungerechtigkeit beseitigen, um finanzielle Spielräume zu gewinnen?

Marin: Ein Beispiel: SPÖ und ÖVP hatten versprochen, dass sie 5 bis 25 % bei Luxuspensionen einsparen. Geworden sind es 1,5 %. In der Arbeiterkammer bekommen führende Funktionäre eine Lebenspensionssumme über vier Millionen Euro. Die AK tritt, zu Recht, für Millionärssteuern ein. Warum fängt sie nicht bei ihren Funktionären an?

Tálos: Der Vergleich von Vermögen mit einer Pensionsleistung ist inadäquat, der AK-Direktor bekommt die Million ja nicht bar auf die Hand.

Marin: Er bekommt jahrzehntelang fünfstellige Monatsbeträge 14 Mal jährlich als Betriebspension der Firma AK, aus unser aller Pflichtbeiträgen. Da greift man in eine öffentliche Kassa, bedient sich – und der Sozialminister versagt als Aufsichtsorgan. Niemand klopft diesem Selbstbedienungsladen auf die Finger, das demoralisiert sehr. Kanzler Kern hat das illusionslos erkannt: Aber wird er diesen Sozialmissbrauch der Genossen abstellen?

Die politische Debatte kreist auch darum, ob das Sozialsystem nicht zu wenige Anreize bietet, um Menschen zurück in den Job zu bringen. Ist dem so?

Tálos:Wer das behauptet, dem rate ich: Schauen Sie genau hin, wie hoch das Leistungsniveau ist. So gibt es 55 Prozent des Netto-Gehalts als Arbeitslosengeld. Bei einer Teilzeitbeschäftigten mit einem Nettogehalt von 800 Euro sind das weniger als 500 Euro. Wer kann behaupten, dass man damit Miete, Heizung und noch einen Schulausflug für die Kinder bezahlen kann?

Marin: Die Ersatzrate beim Arbeitslosengeld ist wahrlich nicht das Problem, die Dauer der Arbeitssuche ist in Österreich viel kürzer als in Deutschland, ein Bruchteil von Frankreich, Belgien, Italien. Und wem die Mindestsicherung zu hoch ist, den frage ich: Wollen wir, dass psychische kranke Menschen wie in London und Paris in Pappschachteln auf der Straße vegetieren?

Aber woran krankt es zur Zeit?

Tálos: Beispielsweise daran, dass auf EU-Ebene zu wenig passiert. In Europa gibt es Millionen Arbeitslose und Armutsgefährdete. Der Sozialstaat hängt auch davon ab, ob und wie sich die soziale Dimension der Europäischen Union entwickelt. Hier besteht Handlungsbedarf.

Emotional beschäftigt die Menschen in Österreich derzeit das Migrationsthema. Die ÖVP warnt vor der angeblich problematischen Zuwanderung von Flüchtlingen in den Sozialstaat. Ein reales Problem?

Tálos: Die finanzielle Belastung besteht, keine Frage. Aber, dass die Flüchtlinge den Sozialstaat "umbringen", ist eine Mär! Bedenken wir, was die Finanzkrise 2008 an Geld verbrannt hat! Da wurden die Budgets und die Realwirtschaft aller Mitgliedsländer enorm belastet. Ich bin nicht dafür, dass alle – unabhängig von den Gründen der Flucht – aufgenommen werden. Aber wer aufgrund internationaler Regeln ein Recht hat hier zu sein, der muss auch Anspruch auf Sozialleistungen haben.

Marin: Ein pauschaler Missbrauchsverdacht ist dumm und hoch toxisch. Wir haben die Mindestsicherung untersucht und herausgefunden, dass die Hälfte aller Ansprüche nicht abgeholt wird. Wie beim Steuer-Ausgleich lassen die Menschen viel Geld liegen, etwa, weil sie nicht als bedürftig gelten wollen. Natürlich muss man den Missbrauch bekämpfen, und zwar sichtbar. Aber nicht, weil er budgetmäßig relevant wäre, sondern aus Polit-Hygiene: gerade fälschlich vermuteter Missbrauch vergiftet das Klima.

Was wünschen Sie sich für die Reform des Sozialstaates?

Tálos: Wichtig ist zu gewährleisten, dass der Sozialstaat den aktuellen und absehbaren Herausforderungen Rechnung trägt. Die Finanzierung spielt dabei eine wichtige Rolle. Ich komme wieder auf die Wertschöpfungsabgabe zurück: Wenn wir die hätten, dann hätten wir finanzielle Mittel, mit denen wir möglicherweise die dringend nötige Entlastung des Faktors Arbeit schaffen könnten.

Und Sie, Herr Marin?

Marin: Zum Beispiel gute Pflege und flächendeckende betriebliche Altersvorsorge wie in Holland und Schweden. In Deutschland und der Schweiz kann man sein Einkommen in Altersvorsorge umwandeln – unabhängig vom Arbeitgeber. Firmenpensionen sollten statt Sonderrechten für einige Privilegierte demokratisiert, in allen Kollektivverträgen oder Betriebsvereinbarungen verankert und portabel werden – wie die Abfertigung neu.

Tálos: Kurz gesagt: Die Frage ist nicht, ob der Sozialstaat eine Zukunft hat, sondern welche!

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