Seyran Ateş: "Der liberale Islam wird sich durchsetzen"

Seyran Ates ist Juristin und Autorin.
Die in Berlin lebende Anwältin und Moschee-Gründerin Seyran Ateş über Gewalt im Namen der Religion, reale Chancen für den Dialog mit Muslimen sowie aktuellen politischen Handlungsbedarf.
Von Uwe Mauch

Ihre ruhige Art ist schon bemerkenswert. Lässt vergessen, dass im Rücken des Interviewers zwei deutsche Personenschützer keinen Millimeter von ihrer Position weichen und das Wiener Innenstadt-Hotel nur so vor Anti-Terrorismus-Experten wimmelt.

Seyran Ateş ist nach einem Anschlag auf ihre Person nie alleine. Auch nicht bei ihrer Tour durch Österreich. Gestern Abend referierte die Anwältin, Menschenrechtlerin und Gründerin einer liberalen Moschee bei der Glob-art Academy in Krems, zuvor schenkte sie dem KURIER eine Stunde ihrer Lebenszeit.

KURIER: Frau Ateş, bisher traut sich nur eine Handvoll Menschen zum Freitagsgebet in Ihre Moschee. Wird Ihr Angebot nicht angenommen?

Seyran Ateş: Nein, dieser Schluss ist falsch. Im Gegenteil, unsere Moschee wird sehr gut angenommen, und zwar weltweit. Wir haben seit der Eröffnung im Juni millionenfach Zuspruch erfahren. Viele Menschen schreiben uns: Bitte gebt nicht auf, eure Moschee ist die Hoffnung für eine Reformierung des Islams. Ihr habt auch der Revolution ein Gesicht, einen Ort und einen Namen gegeben.

Haben Gläubige Angst, zu Ihnen in die Moschee zu kommen?

Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Es gab so viele Drohungen und Diffamierungen gegen uns. Und dennoch kommen jetzt Menschen aus der ganzen Welt. Keine Revolution beginnt mit Millionen, das ist erst ein Anfang.

Was setzen Sie jenen entgegen, die jetzt behaupten, dass Sie die Community spalten?

Dass sie selbst diejenigen sind, die seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten die Community spalten, indem sie sich zu den einzigen wahrhaften Muslimen erklären. Jeden, der nicht so tickt wie sie, haben sie immer als Ungläubigen bezeichnet. Auch die Spaltung in Sunniten, Schiiten, Aleviten und Sufis beruht auf den patriarchalen Strukturen von machtbesessenen Männern. Wir hingegen machen das jetzt genau andersrum: Unsere Türen stehen offen für alle.

Dieser liberale Islam – hat er eine reale Chance in Europa?

Der liberale Islam wird sich in den nächsten dreißig bis fünfzig Jahren in Europa durchsetzen. Weil das der einzige Islam ist, der mit den demokratischen Werten, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vereinbar ist. Was nicht bedeutet, dass die Konservativen keinerlei Existenzberechtigung haben. Unser Anliegen ist es ja nicht, die Orthodoxie abzuschaffen. Wir wollen auch keine andere Lesart des Koran einführen. Uns geht es nur darum, dass wir daneben auch einen Platz haben. Diesen Platz müssen und werden wir uns erkämpfen, weil es genügend Menschen in Europa gibt, die so leben wollen.

In Österreich gibt es laut Umfragen überdurchschnittlich viele Moslems, die nicht so leben wollen. Was sagen Sie jenen?

Auch in Österreich praktizieren die meisten Verbände einen sehr strengen Islam, der auch dazu führt, dass sich junge Menschen radikalisieren. Die Frage ist zudem: Melden sich liberale Muslime bei all diesen Studien überhaupt zu Wort? In der Regel wollen die meisten gar nicht in den selben Topf geworfen werden und positionieren sich daher teilweise sogar als Atheisten. Oder sie trauen sich nicht, sich in ihrer Gemeinschaft zu outen.

Braucht es da mehr Mut?

Ja. Da braucht es großen Mut. Und ich merke in Berlin, dass die Ersten zu uns kommen. Weil sie, wie sie erzählen, in ihren Moscheen nicht nachfragen dürfen , immer niedergeredet werden oder mit Wut konfrontiert sind und deshalb dort lieber den Mund halten.

Und was sagen Sie den hiesigen Scharfmachern in der Politik, die im Wahlkampf erneut gegen den Islam mobil machen?

Denen sage ich: Jede Gesellschaft, die sich irgendwie zivilisiert hat, besteht aus vielen verschiedenen Ethnien und Religionen. Sie werden Europa auch nicht mehr als christlich-jüdisches Abendland rekonstruieren können. Auch Österreich nicht. Und dann: Überlegt doch mal, wie unsympathisch ihr rüberkommt, wenn ihr alle in eine Schublade steckt. Ist es denn nicht vernünftiger, wenn ihr auch die Integration des Islam mit eurer kritischen Stimme regelt? Denn es gibt auch sehr viele Muslime, die Österreich als ein freies, demokratisches Land schätzen.

Was muss Politik tun, um die Integration für alle Seiten Gewinn bringend zu ermöglichen?

Ich habe in meinem Buch "Der Multikulti-Irrtum" dargelegt: Wenn Menschen aus anderen Ländern kommen und andere Sprachen sprechen, kann man das auch als eine Chance und einen Reichtum begreifen, und nicht als Defizit. Es beginnt bereits im Kindergarten, wo wir nicht nur die Kinder der Zugereisten zu einem entspannten Umgang mit dem Anderen vertraut machen müssen, sondern auch die Kinder der Hiesigen. Die Angst vor Überfremdung wird erst dann weichen, wenn ich den so genannten Fremden kennenlerne und realisiere, dass wir so vieles, so viel allzu Menschliches gemeinsam haben.

Was macht Ihnen derzeit am meisten Angst?

Dass sich die Politik in Europa nicht genug auf die eigene europäische Identität konzentriert. Ich finde es erschreckend, dass zwischen den europäischen Ländern – Stichwort Brexit, Ungarn und Polen – eine Spaltung vollzogen wird. Es macht mir auch große Sorge, dass sich Europa gegenüber der Türkei und einen Islam, der Europa spaltet, nicht klar und deutlich erklärt. Und es tut weh, dass uns auch die österreichische Wirtschaft durch Geschäfte mit der Türkei schadet.

Und was gibt Ihnen Hoffnung?

Dass viele Europäer die europäische Idee verinnerlicht haben – und die Freiheit am Ende immer gewinnt. Ein Blick in die Geschichte gibt mir Kraft: Die Menschen haben nie das erlebt, wofür sie gekämpft haben.

In Berlin fanden Sie in der evangelischen Kirche einen verständnisvollen Partner. Erfahren Sie auch Wertschätzung von der katholischer Seite?

Wertschätzung auf jeden Fall. Zwar hat die katholische Kirche mit den Geschlechter-verhältnissen ihre eigenen Pro-bleme, aber wir führen in Freiburg, wo wir unsere nächste Moschee eröffnen wollen, auch Gespräche mit Katholiken. Wir sind im Übrigen auch schon in Paris und London aktiv. Mein Ziel ist es, in zehn Jahren in jeder europäischen Großstadt eine Moschee zu haben.

Auch in Wien?

Es gibt erste Anfragen.

Fürchten Sie um Ihr Leben?

Ich habe eine gesunde Furcht, das schon, aber es ist keine lähmende Angst.

Fehlt Ihnen was im Leben?

Das einzige, was mir wirklich fehlt, ist die Unterstützung durch die Politik.

Seyran Ateş wurde 1963 als Tochter türkisch-kurdischer Eltern in Istanbul geboren und zog mit 6 nach Berlin. Dort geriet sie in den Zwiespalt zwischen Schul-Karriere und repressiver Erziehung. Als Anwältin und Autorin engagiert sie sich heute v. a. für benachteiligte Musliminnen. Seit
sie auf der Straße angeschossen wurde, erhält sie Personenschutz – und laufend Morddrohungen.

Die neue Moschee in Moabit Im Juni hat Ateş die Ibn-Rushd- Goethe-Moschee in einem Raum der evangelischen Johanneskirche eröffnet. Die Moschee steht für einen säkularen liberalen Islam, Männer und Frauen dürfen gemeinsam beten. Das Kopftuch ist für die Frauen ein Kann, kein Muss.

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