Vertriebene Juden: Zurück in der Stadt der (Alb)träume

Vertriebene Juden: Zurück in der Stadt der (Alb)träume
Wie ist es, als Kind oder Enkel geflohener Juden nach Wien zurückzukehren? Eine Spurensuche

„Mein Vater hat immer gesagt: Du bist ein Wiener Spanier“, sagt Guillermo Weinberger, er lacht. Guillermo, den Namen trägt er nur in Uruguay, wo er geboren wurde; in Florida, wo er die längste Zeit seines Lebens daheim ist, nennen sie ihn Bill. Und hier in Wien, wo er heute nur zu Gast ist, wo er aber irgendwie auch zu Hause ist?

„Da wäre ich der Wilhelm“, sagt Weinberger.

Aber nur, wenn sein Vater nicht geflohen wäre, sagt er noch dazu.

Immer dieses wäre.

Die „City of dreams“

Was wäre aus Österreich geworden, wären die 1930er, 1940er nicht so verlaufen, wie sie es sind? Wenn die Nazis nicht Abertausende Wiener Juden verfolgt, vertrieben, ermordet hätten?

Bill Weinberger hat oft darüber nachgedacht. Vermutlich jedes einzelne Mal, wenn er in Wien war; „50 Besuche waren es“, sagt der 76-Jährige. Auch die anderen etwa 40 Jüdinnen und Juden, die neben ihm in der Hofburg auf Einladung des Bundespräsidenten sitzen, beschäftigt diese Frage. Natürlich: Sie ist mit ein Grund, warum sie heute in Wien sind.

Das „Jewish Welcome Service“, eine Einrichtung der Stadt Wien, hat sie – Vertriebene, deren Kinder und Enkel – in die Stadt ihrer Vorfahren, ihrer Geschichte eingeladen. Aus Israel, aus den USA, aus der ganzen Welt sind sie gekommen; in die „City of dreams“, die Stadt der Träume, wie Jill Weinberger, Bills Ehefrau, Wien nennt. Sie hat sogar ein Buch mit diesem Titel darüber geschrieben, „trotz der gemischten Gefühle“.

Vertriebene Juden: Zurück in der Stadt der (Alb)träume

Guillermo Weinberger

Vergessen oder reden?

Denn ganz ohne Bitterkeit kommt dieser Satz nie aus. Nein, für viele hier war – und ist – Wien noch immer auch eine Stadt der Albträume: „Meinem Vater wurde hier alles genommen“, sagt Micheline Gutman aus Israel, Brille, dunkle Haare. 1938, ihr Vater war da gerade 18, floh er mit seinen Eltern nach Frankreich; als die Nazis dort einmarschierten, die ganze Familie nach Auschwitz deportierten, „sprang er vom Wagen“. Er rettete sich, während alle anderen starben.

Gutman hat die Geschichte lange beschäftigt; in Wien war sie zuvor aber noch nie. Wie es war, als sie jetzt, 80 Jahre später, zum ersten Mal vor seinem Haus im 20. Bezirk stand? „Traurig“, sagt sie nur. Und dann: „Er kam nur einmal zurück, dann nie wieder. Er war frustriert, sein Leben lang. Und reden wollte er darüber kaum.“

Es ist ein Muster, das sich hier durchzieht: Viele der ersten Generation wollten lieber still vergessen; die zweite und dritte Generation aber fragt. „Meine Eltern sprachen nicht gern darüber, wie der Familie alles genommen wurde, die sechs Geschäfte, die Villa im 18. Bezirk", sagt Weinberger. „Mein Großvater war ja der erste Linoleum-Importeur hier“, sagt er; doch nach dem Krieg, da „war alles weg“. So erging es auch Ron Brawers Familie: "Wir hatten eine Pelzfabrik", sagt der 75-Jährige Bühnenautor aus New York. Wo die war, danach sucht er ebenso wie nach dem Haus seines Vaters.

Und wie ist es, wenn man weiß, wo die Vorfahren lebten? „Es ist jedes Mal ambivalent, wenn ich da bin“, sagt Bill Weinberger und wackelt ein wenig mit dem Kopf. Vor dem Haus des Großvaters in der Blaasstraße sei er schon oft gestanden, sagt er. „Nur reingegangen bin ich noch nie“.

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Micheline Gutman

Die unmögliche Heimat

Dass das Hiersein nicht leicht ist, trotz der offenen Arme und der lachenden Gesichter, trotz des Kinderchors der Synagoge, der den Besuchern etwas vorsingt, das ist allen klar.

„Sie sind hier in einem anderen Österreich“, sagt Bundespräsident Alexander Van der Bellen darum. „Es gibt hier einen Konsens, von einigen Kräften abgesehen, sich jedem antisemitischen Schmarrn entgegenzustellen. Österreich empfindet Sie als Teil dieses Landes – egal, wo Sie wohnen“, sagt er.

Ob sich das auch so anfühlt für die Kinder und Kindeskinder der Vertriebenen?

Sie sind hier in der „unmöglichen Heimat“, wie der US-Historiker Anthony Kauders Deutschland und Österreich einmal nannte. Oder, wie Bill – Wilhelm – Weinberger es sagt: „Mein Vater sagte immer: Man kann schon nach Wien zurück – aber die Gesichter hier muss man sich nicht anschauen.“

Ein Satz, typisch für den jüdischen Humor – zum Lachen und zum Weinen zugleich.

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