Letzte Chance für SOS-Kinderdorf: Volle Aufklärung – jetzt aber wirklich?
SOS-Kinderdorf-Gründer Gmeiner mit dem langjährigen Präsidenten Kutin.
In der Causa SOS-Kinderdorf geht es mittlerweile nicht mehr „nur“ um einzelne Fälle von Gewalt und Missbrauch durch Kinderdorfmütter und Pädagogen, die veralteten Erziehungsmethoden anhingen oder überfordert waren.
Es geht um die sexuelle Ausbeutung von schutzlosen Kindern, die der Organisation anvertraut wurden. Durch den Gründer Hermann Gmeiner, und nun – wie der Falter berichtete – auch durch einen Großspender mit Unterstützung von Gmeiners Nachfolger, dem langjährigen Präsidenten Helmut Kutin.
Der Fall an sich ist seit 2021 bekannt: Der Großspender reiste zwischen 2010 und 2014 mehrmals nach Nepal, weil er dort den Bau eines Kinderdorfes unterstützte – kolportiert werden 900.000 Euro. Für so viel Geld genoss er offenbar Privilegien – so durfte er im Kinderdorf übernachten, und einmal organisierten Mitarbeiter sogar den Besuch eines 17-jährigen nepalesischen Burschen im Haus des Mannes in Niederösterreich. 2015 bekam er – damals 86 Jahre alt – Besuchsverbot im Kinderdorf, weil die Kinder dort immer wieder sexuelle Übergriffe gemeldet hatten.
Kommission unter der Leitung Klasnics
Neu ist, dass Präsident Kutin höchstpersönlich dafür gesorgt haben soll, dass der Großspender weiter Zugang zu nepalesischen Kindern bekommt. „Drei Nächte im Trainingslager sind zugesagt“, steht in einem eMail von Kutin aus dem Jahr 2017, das dem Falter neben weiteren Unterlagen vorliegt. Daraus geht hervor, dass auch Geschäftsführer Christian Moser – derzeit freigestellt – eingeweiht war.
Erstaunlich ist diese Enthüllung auch deshalb, weil im Mai 2021 – als die Vorwürfe durch einen Whistleblower bekannt wurden – eine Kommission eingesetzt wurde. Unter der Leitung von Waltraud Klasnic hat die „Independent Childcare Commission“ (ICC) eineinhalb Jahre lang diese und andere Verdachtsfälle in Ländern untersucht, in denen SOS-Kinderdorf Österreich aktiv war. Offensichtlich ohne bis zum Kern vorzudringen.
Helmut Kutin hat zu mir gesagt: ‚Ich weiß von nichts.‘ Ich habe mich auf sein Wort verlassen müssen.
über ihr Gespräch mit Kutin
Damit konfrontiert, schilderte Klasnic am Mittwoch im Ö1-Morgenjournal ein persönliches Gespräch mit Präsidenten Kutin: Er habe nur gesagt: „Ich weiß von nichts“ und dann darauf hingewiesen, dass er erst kürzlich eine Herzoperation gehabt habe, trotzdem gekommen sei. Mehr habe er nicht gesagt. Auch Geschäftsführer Moser, der dabeisaß, habe laut Klasnic geschwiegen. Und sie habe ihn auch nicht gefragt.
Der Großspender wurde 2022 angezeigt, die Ermittlungen endeten aber kurz darauf, weil er starb. Er wurde 93 Jahre alt, seine Identität wurde bis zum heutigen Tag nicht öffentlich gemacht.
Im Abschlussbericht der ICC hieß es, die Sache sei „ein Einzelfall“ geblieben. Auch die seit September im Falter publik gewordenen Übergriffe in den Kinderdörfern Moosburg und Imst schlugen bei der Kommission nicht auf. Ebenso wenig wie der Umstand, dass SOS-Kinderdorf 2013 acht Missbrauchsopfern von Gründer Gmeiner je 25.000 Euro an „Schweigegeld“ gezahlt hat, ohne die Vorfälle den Behörden zu melden.
Irmgard Griss.
Verantwortung der Spitze
Es drängt sich die Frage auf: Wie glaubwürdig ist es, dass die Organisation jetzt gegenüber einer neuen Kommission unter der Leitung von Irmgard Griss wirklich reinen Tisch macht? Griss ist „zuversichtlich, so weit das möglich ist“, wie sie im KURIER-Gespräch sagt. „Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit ist ja die Frage, warum das so lange unter der Decke geblieben ist und inwieweit Personen an der Spitze dafür verantwortlich waren.“ Die Geschäftsführung wisse, „dass das ihre einzige Chance ist, die Organisation zu retten“. Für Griss steht fest: „Ich mache das nur, wenn völlige Offenheit herrscht.“
Ich mache das nur, wenn Offenheit herrscht. Die Geschäftsführung weiß: Das ist ihre einzige Chance.
über die Kommission
In einem früheren Interview nahm sie vorweg, dass es sich aus ihrer Sicht um „Einzelfälle“ handle und nicht um ein systemisches Problem. Das erklärt sie auf KURIER-Nachfrage so: „Ich habe gemeint, dass die Vorfälle nicht die gesamte Organisation betreffen. Für die Verbrechen ist nur ein kleiner Teil verantwortlich. Man darf nicht vergessen, dass SOS-Kinderdorf viel Gutes getan hat und es dort viele engagierte Mitarbeiter gibt, denen wir nicht unrecht tun wollen.“ Aber: „Es gibt offenbar auch ein System, das all dies möglich gemacht hat. Und das schauen wir uns jetzt an.“
SOS-Kinderdorf hat seit Dienstag nicht mehr auf KURIER-Anfragen reagiert.
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