So wählen die Austrotürken
So viele türkischstämmige Kandidaten für das Parlament gab es noch nie: Selma Yildirim, geboren in Istanbul, ist Spitzenkandidatin der SPÖ-Tirol, in Wien wird die gebürtige Türkin Nurten Yilmaz erneut für den Nationalrat kandidieren. Efgani Dönmez, geboren im zentralanatolischen Sivas, ist auf Platz 5 der ÖVP-Bundesliste. Bei den Grünen haben Berivan Aslan und Alev Korun, beide in der Türkei geboren, gute Chancen auf eine Wiederwahl.
Seit Jahren versuchen Parteien die Aufmerksamkeit der größten wahlberechtigten Minderheit – jene der Türken – auf sich zu ziehen. Sogar die FPÖ, sonst eher nicht sehr türkenfreundlich, schickte vor zwei Jahren in Vorarlberg Austrotürken ins Rennen – trotz des Protests von Parteichef Strache.
Größte Minderheit
In Österreich leben fast 300.000 Menschen mit türkischen Wurzeln. Rund 120.000 davon dürfen am 15. Oktober wählen. Aber wie geht es ihnen eigentlich in Österreich, welche Erwartungen haben sie an die Politik – und welche Parteien bevorzugen sie?
"Ja, ich bin wahlberechtigt und habe bis jetzt immer die SPÖ gewählt", erzählt Yılmaz beim KURIER-Lokalaugenschein in Wien - Favoriten. Die Quellenstraße ist eines von vielen türkischen Grätzln in Wien, mit türkischen Möbelhäusern und Cafes mit picksüßem Baklava (traditionelle, türkische Süßigkeit).
Familienvater Yılmaz lebt seit fast 30 Jahren in Österreich und beherrscht eine Wiener Kulturtechnik, die auch in der Türkei niemandem fremd ist, hervorragend: Das Nörgeln. "Wissen Sie, was mich stört: Das Wohnen ist viel zu teuer", klagt er: "Wenn die Mieten niedrig sind, ist der Genossenschaftsbeitrag viel zu hoch oder umgekehrt."
Yilmaz muss weiter. Ein junger Mann an einem Döner-Stand hat Zeit für ein Gespräch. "Ich habe bis jetzt nie gewählt und werde auch im Oktober nicht wählen", sagt Levent. Er interessiere sich für die österreichische Politik gar nicht. Wenn schon, dann verfolgt er die türkische Politik: "Ich bin ein Erdoğan-Anhänger", bekundet der österreichische Staatsbürger stolz.
Auf dem Bauernmarkt in der Leibnizgasse kaufen zwei Frauen Obst und Gemüse ein. Sie gehören zu den wenigen Frauen, die mit dem KURIER über Politik reden wollen. "Ich wähle immer die türkenfreundliche Partei, mein Sohn", sagt Dursun auf Türkisch mit einem liebevollen Lächeln. Allerdings braucht sie die Hilfe ihrer Freundin, welche "türkenfreundliche Partei", sie zuletzt gewählt hat. "Ach ja, die Roten". Tatsächlich hat die SPÖ in früheren Wahlkämpfen offensiv um Stimmen der türkischen Community geworben. Mit Erfolg – wie eine Studie des Politologen Peter Filzmaier zeigt.
Mehr als die Hälfte der Austrotürken wählte bei der Nationalratswahl 2013 Rot oder Grün. "Der Grund dafür muss aber nicht unbedingt am Migrationshintergrund liegen", erklärt Filzmaier dem KURIER. "Die meisten Türkischstämmigen leben in Wien, wo eben die SPÖ sehr stark ist." Allerdings sei zu bemerken gewesen, dass das politische Interesse und auch die Wahlbeteiligung deutlich unter dem Durchschnitt im Vergleich mit anderen Migrantengruppen lag (57 Prozent aller befragten Migranten gaben an, wählen zu gehen).
Steigendes Interesse
Filzmaier hat jedoch festgestellt, dass "das Interesse an österreichischen Wahlen bei der zweiten Generation der Türkischstämmigen im Steigen begriffen ist."
Das wiederum glaubt Hakan Renda erklären zu können. Er ist Generalsekretär der Anfang 2017 gegründeten NBZ (Neue Bewegung für die Zukunft), in der vor allem türkischstämmige Österreicher tätig sind: "Austrotürken sind bisher in der Politik meist ignoriert worden. Sie fühlen sich kaum vertreten. Deshalb wollen sich ja jetzt auch immer mehr politisch engagieren", sagt der 39-Jährige. Bei der Bundespräsidentenwahl sei die Wahlbeteiligung bereits gestiegen, so Renda.
Zurück nach Favoriten. In einem Geschäft verkauft ein Ehepaar Kopftücher. Doğan ist türkisch-, seine Frau Ilkay kurdischstämmig. "Du hast den Richtigen gefunden zum Sprechen", sagt der 31-Jährige, sichtlich erfreut, dass er seine politischen Ansichten mitteilen kann. Bis jetzt habe er immer gewählt, diesmal will er nicht. "Denn nur so verstehen die Politiker, dass sich etwas ändern muss." Wegen der Islamfeindlichkeit, die er bei allen Parteien bemerkt.
Von der Migrantenpartei NBZ habe er bisher kaum etwas vernommen, er will sich diese noch genauer ansehen, erzählt er. Ilkay, die für den reibungslosen Betrieb des Ladens zuständig ist, hat ein konkretes Anliegen: "Als Unternehmerin hat man immer wieder schwierige Zeiten", klagt die junge Frau. "Ich würde mir vom Finanzamt mehr Verständnis erhoffen." Damit ist sie dann schon ganz Österreicherin.
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