Schüler in Not: Wenn das Elternhaus auslässt

Schüler in Not: Wenn das Elternhaus auslässt
Eine Wiener Sozialarbeiterin erzählt über prekäre Umstände, unter denen Kinder oft aufwachsen

In dem Moment, als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fällt, tippt Elisabeth Corazza die Nummer vom Jugendamt in ihr Handy. Die Behörde wird wohl die Kinder dieser Mutter zu ihrem Schutz in ein Krisenzentrum bringen, ist sich die Wiener Schulsozialarbeiterin nach dem Hausbesuch sicher. Sie weiß auch, was das für ein „harter Einschnitt in die Lebensgeschichte der Kinder und der Mutter“ sein wird – ihr bleibt aber keine Wahl.

„Hoffentlich nimmt das Mädchen, um das es hier geht, psychologische Betreuung in Anspruch“, sagt die Expertin, denn das Kind müsse schließlich „14 Jahre Lebensgeschichte“ aufarbeiten.

Tage wie dieser sind zum Glück selten, erzählt Corazza im KURIER-Gespräch. Doch sie kommen vor.

 

 

 

Die Schulsozialarbeiter – in Wien gibt es 30 – sind die Anlaufstellen, wenn Lehrer merken, dass mit einem der Kinder etwas nicht stimmt. Die Hausübungen werden nicht gemacht, die Schulsachen sind nicht in Ordnung, das Kind wirkt wütend oder bleibt den ganzen Tag lang still. „Im besten Fall hat das mit Liebeskummer zu tun. Meist aber mit Problemen daheim, von denen Lehrer oftmals nichts wissen.“

Corazza ist in Wien für die Innenstadtbezirke Wieden und Margareten zuständig, drei Mittelschulen, 900 Kinder. „Dabei bräuchte mich jede der Schulen täglich.“ Doch dafür fehle das Budget.

Für Menschen, die in einem liebevollen, sicheren, familiären Umfeld aufgewachsen sind, ist es kaum nachvollziehbar, wie es bei Familien aussieht, in denen gar nichts mehr funktioniert. Vielleicht nie funktioniert hat. Wo sich niemand um die Kinder kümmert, die Schule wenig Stellenwert hat. Wo manchmal weder Strom noch Warmwasser vorhanden ist, physische und psychische Gewalt herrscht, mit Eltern, die drogensüchtig oder psychisch krank sind. Das, sagt Corazza, gehe fast immer mit Armut einher, und die Kinder seien davon immer am härtesten betroffen.

Ein anderes Mal hätte der Klassenlehrer gebeten, bei einem Zehnjährigen zu schauen, warum seine Stifte nie gespitzt sind, das Mitteilungsheft nie unterschrieben wird und das Kind oft gar nicht in die Schule kommt.

„Die Kontaktaufnahme mit den Eltern hat nicht geklappt, also sind wir zur Wohnung gegangen. Dort lag um elf Uhr der Bub noch im Bett. Heizung und Strom waren abgedreht, Schimmel war an den Wänden, die Mutter psychisch neben der Spur. Ich war verwundert, dass der Bub überhaupt hin und wieder funktioniert hat.“ Auch hier, erzählt sie, wurde das Jugendamt zugeschaltet.
Viel häufiger sind ihre Alltagsthemen mit muslimischen Familien. „Die Kinder leben ja oft in zwei Welten, in der Schule eine liberale, aufgeklärte und gleichberechtigte Welt, daheim oftmals alles das nicht.“

Schüler in Not: Wenn das Elternhaus auslässt


Viele Frauen sind mit mehreren Kindern allein, oder beide Eltern sind da, aber krank, arbeitslos und überfordert. Da würde sich niemand um die Kinder oder um die Schule richtig kümmern, am Wochenende etwas mit ihnen unternehmen oder abends etwas vorlesen.

Und etwa einmal im Jahr komme es vor, sagt sie, dass sich sehr junge Mädchen an sie wenden, weil ihre Väter beschlossen haben, sie in fernen Ländern zu verheiraten. „Die Väter reagieren dann mit Unverständnis, dass das in Österreich nicht geht. Dass das Kind hier Rechte hat, und der Vater nicht einfach über ihr Leben bestimmen darf. Findet das Hilfesystem da keine Bereitschaft, bleibt oft keine Wahl, als das Mädchen in betreuten Wohneinheiten unterzubringen, mit eingeschränktem oder gänzlich ohne Kontakt zur Familie.“


Absurd findet sie, dass an den „Brennpunktschulen“, an denen sie tätig ist, der Lehrplan  durchgenommen werden muss, „der mit der Lebenswelt der Jugendlichen nichts zu tun hat. In einer Klasse mit 100 Prozent wenig Deutsch sprechenden Migranten, welchen Sinn hat es da, sich mit der Weimarer Republik zu beschäftigen?“

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