Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Mei, da waren sie noch  jung:  Die türkis-grünen Regierungsmitglieder plus Klubchefs bei ihrer ersten Klausur am 29. Jänner 2020 in Krems. Nicht mehr dabei sind heute Heinz Faßmann (Bildung), Elisabeth Köstinger (Landwirtschaft), Christine Aschbacher (Arbeit), Margarete Schramböck (Wirtschaft), Sebastian Kurz (Kanzler), Rudolf Anschober (Gesundheit), Ulrike Lunacek (Kultur) und Gernot Blümel (Finanzen) 
Zwei Regierungschefs hat man verbraucht, fünf Jahre hat die Koalition aus ÖVP und Grünen gehalten - und Ärgerliches wie Amüsantes hinterlassen.

Als am 7. Jänner 2020 die erste türkis-grüne Bundesregierung der II. Republik angelobt wird, laufen schnell die Wetten, wie lange dieses „politische Experiment“ wohl halten wird. Die volle Periode? Wenige glaubten daran. 

Zu unterschiedlich sei das damals von ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz ausgerufene „Beste aus beiden Welten“ – zumal die ÖVP zuvor mit der FPÖ koaliert hatte, während die Grünen über keine Regierungserfahrung auf Bundesebene verfügten. 

Fünf Jahre, zwei Kanzler (Kurz, Schallenberg) und Gesundheitsminister (Anschober, Mückstein) sowie einige Abgänge (Aschbacher, Blümel, Fassmann, Köstinger, Schramböck, Lunacek, Tursky) später, sind die Wetten verloren.

Die ungleichen Parteien haben „durchgedient“. 

Sie navigierten mit Lockdowns und Corona-Hilfen durch die Pandemie und mussten angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine Teuerungs- und Energiekrise stemmen. Auf den letzten Metern vor der Wahl fliegen nun die Fetzen. Das Grüne „Ja“ zur Renaturierung bringt der Klimaministerin eine Anzeige der ÖVP wegen Amtsmissbrauchs ein. Dass sich der Juniorpartner zudem nicht mehr an Absprachen wie Sideletter gebunden fühlt, ist die vorerst letzte Eskalation in der Koalition.

Das Innenpolitik-Team des KURIER bilanziert: Was bleibt von den einzelnen Ministern der türkis-grünen Koalition?

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Karl Nehammer: Innenminister, Bundeskanzler

Hat er damit gerechnet? Wohl kaum. Als Karl Nehammer im Jänner 2020 unter Sebastian Kurz als Innenminister angelobt wurde, war nicht abzusehen, dass er den damaligen Parteichef beerben würde – in beiden Funktionen.  Nehammer wuchs in die Aufgabe hinein. Obwohl er beispiellose Herausforderungen (Covid, Ukraine-Krieg, Energie-Krise, etc.) zu stemmen hatte, setzte er mit den Grünen große Projekte wie das Ende der kalten Progression  um. Seine  Kanzler-Werte dümpeln trotz allem dahin.    

Profilierung

Der ÖVP-Chef hat es nicht geschafft, die Erfolge von türkis-grün nachhaltig zu vermarkten. In der Schlussphase versuchte Nehammer mit Ansagen wie „Österreich ist ein Autoland“ Profil zu gewinnen. Auf Kosten des Koalitionspartners – und mit enden wollendem Erfolg. 

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Werner Kogler: Vizekanzler; Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst & Sport

Das grüne Wahlkampf-Schlachtross brachte die Grünen 2019 von der außerparlamentarischen Opposition auf die Regierungsbank. Die Kultur-Agenden überließ er seiner Staatssekretärin, Sport liegt ihm mehr – Fußball ganz besonders.     

Kraftakt

Im Oktober 2021 stellte er der ÖVP wegen Korruptionsermittlungen ein Ultimatum. Sebastian Kurz zog sich zurück. Sein guter Draht zu Nachfolger Nehammer ließ die Koalition Krisen überstehen, zuletzt zur Renaturierung. Mit Gernot Blümel (ÖVP) gelang ihm sein Herzensprojekt, die ökosoziale Steuerreform.

Aussetzer

Der 62-jährige Steirer ist für endlose Schachtelsätze, seine Gags und sein Granteln berüchtigt – für den „Gefurze“-Sager rund um die Causa Schilling im EU-Wahlkampf musste er sich entschuldigen.

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Susanne Raab: Frauen, Familie, Integration & Medien 

Im  Ressort der 39-Jährigen sind durchaus diverse Agenden versammelt – von der Familienbeihilfe über Bezahlkarten für Asylwerber bis hin zur ORF-Haushaltsabgabe. Raabs eigentliches Steckenpferd, die Integration, gerät durch den Kurs des Innenministers  oft zur Randnotiz. Und: Raab musste die Wiener Zeitung zusperren.

Vertraute 

Von Sebastian Kurz als Hardlinerin  entdeckt – Raab wurde 2017 die jüngste Sektionschefin der Republik (Integrationssektion) –   und auch deshalb in die Regierung geholt, gilt die Oberösterreicherin mittlerweile als eng(st)e Vertraute von Kanzler Karl Nehammer.

Prestigeprojekte ade 

Islamlandkarte und  Leitkultur-Debatte wurden zum Debakel, die ORF-Reform blieb aus. 

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Karoline Edtstadler: EU & Verfassung 

Auf ihren zahlreichen Reisen durch die Welt stets nahbar und eloquent, mimt sie im Inland die Justiz-Hardlinerin und die „Schatten-Justizministerin“.

Losgesagt 

Sebastian Kurz setzte sie als Rammbock gegen WKStA und Koalitionspartner ein, die 43-jährige Salzburgerin hat sich aber rasch emanzipiert. Das Nehammer-Umfeld sieht in ihr eine Bedrohung. Wird sie irgendwann Kanzler-Kandidatin?

Hartnäckigkeit

Durch ihre forsche Art eckt sie bei Verhandlungen an. Und doch: Nach Jahren der Länder-Blockade gelang ihr das Infofreiheitsgesetz. Eine Löschpflicht für Social Media setzte sie vor der EU um. Für ihre Forderung nach Stärkung der Beschuldigtenrechte wurde die ÖVP-Politikerin verhöhnt, der VfGH gab ihr in puncto Handysicherstellung letztlich recht.

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Alma Zadić: Justiz

Sich „schützend vor die unabhängige Justiz zu stellen“ war in Zeiten von Korruptionsermittlungen gegen und Angriffen von ÖVP-Politikern zentrale Aufgabe der Ex-Liste-Jetzt-Mandatarin.

Gegenspielerin

Anfangs recht defensiv und konfliktscheu, gab sie Edtstadler, ihrer Gegenspielerin in der ÖVP, immer stärker Kontra. Auch  intern soll sie härter auftreten, als man ihr zutrauen würde – siehe Budgetverhandlungen. Die bald zweifache Mutter erfreut sich höchster Beliebtheitswerte.

Erfolge & Niederlagen

An Differenzen mit Edtstadler ist die Einrichtung einer unabhängigen Weisungsspitze gescheitert. Nicht durchsetzen konnte sich Zadić auch beim Familien- und Eherecht. Gelungen sind ihr Erhöhungen des Justiz-Budgets sowie Reformen im Korruptionsstrafrecht, bei der Maklerprovision und beim Kostenersatz.

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Gerhard Karner: Inneres

Er gilt als „braver Parteisoldat“ aus Niederösterreich und  kam 2021 in die Regierung, als Karl Nehammer Bundeskanzler wurde. Der Kampf gegen illegale Migration ist sein zentrales Thema, doch das Bild vom schlichten Funktionär wird dem Politiker Karner nicht umfassend gerecht.

Harte Schale ... 

Karners Nein zum Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgaren löste eine mittlere Krise in der EU aus. Mit der Ansage wollte Karner Druck für den Grenzschutz machen, der ihm – wie auch vielen Nicht-ÖVP-Politikern  anderer Partei –  ein ehrliches Anliegen ist. 

... weicher Kern?

Karner inszeniert sich gern  als Hardliner bei Asyl und wirkt vor den Kameras mitunter verbeamtet. In der Nähe, so berichten Vertreter von Asyl-NGOs und selbst den Grünen, gewinnt er als Person  aber  deutlich.

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Leonore Gewessler: Klima, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation & Technologie

Von Global 2000 ist 46-Jährige direkt an die Spitze des grünen Schlüssel-Ressorts gewechselt – und wirkte, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.

Heldinnenstatus

Selbst wenn das Klimaschutzgesetz nichts mehr wird: Mit dem Klimaticket, der -Bepreisung  oder der EU-Renaturierung hat sie die  grünen Prestigeerfolge schlechthin zu verbuchen.

Eskalation

Obwohl sie in der öffentlichen Auseinandersetzung auf Untergriffe verzichtet, ist Gewessler aus ÖVP-Sicht der „grüne Kickl“. Lobautunnel-Aus, ihr Solo beim EU-Klimaplan oder die womöglich verfassungswidrige Zustimmung zum EU-Renaturierungsgesetz und zuletzt  die Neubestellung in ihrem Ministerium : Eine Neuauflage von Türkis-Grün könnte an Gewessler scheitern.

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Johannes Rauch: Soziales, Gesundheit, Pflege & Konsumentenschutz

Der Vorarlberger mit Regierungserfahrung gilt als politischer Profi und das war wohl der Grund, warum er sich lange zierte, die exponierte, im Vergleich zu den Ländern aber oft  machtlose Position des Gesundheitsministers zu übernehmen. Nachdem die Regierung zwei Ressortchefs verschlissen hatte, ließ sich Rauch breitschlagen – und wurde nach holprigem Start auffallend trittsicher.

Keine Angst

Zu seinen großen Würfen gehören zwei große Pflegepakete. Und im Unterschied zu seinen Vorgängern hatte der gelernte Sozialarbeiter auch keine Angst davor, sich mit der starken Lobby der Ärztekammer anzulegen, wenn es um die Mitsprache bei der Vergabe von Kassenstellen geht. Keine großen Würfe gelangen bei der Digitalisierung  für Patienten.

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Norbert Totschnig: Land- und Forstwirtschaft, Regionen & Wasserwirtschaft

Der Tiroler war bis zu seiner Angelobung ausschließlich ÖVPlern als Direktor des  Bauernbundes bekannt – böse Zungen behaupten, er sei bis heute unter der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle geblieben. Im APA-OGM-Vertrauensranking 
ist er unter der türkisen Regierungsriege auf Platz 5. Mit den Medien wurde er nie wirklich warm - das mag auch und insbesondere an seinem Antrittsinterview in der 
Kronenzeitung liegen.

Expertise

Von Funktionären und Stakeholdern wird ihm Expertise attestiert – allein sie blieb der Öffentlichkeit verborgen. Nur gen Ende, als es um die Renaturierung und die ÖVP-Kritik an der grünen Klimaministerin Leonore Gewessler ging, machte der 50-Jährige auf sich und sein Wissen aufmerksam.

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Martin Polaschek: Bildung, Wissenschaft &  Forschung

Die Erwartungshaltung war hoch, vielleicht zu hoch.  16 Jahre Vizerektor, fast drei Jahre Rektor der Uni Graz: Das ist ein Mann aus der Praxis, so hieß es. Doch auch der Rechtshistoriker konnte das komplexe Bildungssystem nicht mit visionären Ideen beleben. Kleine Fortschritte hier, kleine Veränderungen da, lautete das Motto.

Flügel

Akute Entwicklungen wie der Familiennachzug von Flüchtlingskindern machten deutlich, dass das Bildungssystem auch an einfachen Fragen wie „Wie viele Lehrer und Schulen sind wo vonnöten?“grandios scheitern kann. Ist Polaschek allein dafür verantwortlich? Mit  Sicherheit nicht. Gleichzeitig hat er nicht den Eindruck vermittelt, er versuche mit aller Kraft, dass  Österreichs Schülern die Flügel gehoben werden, wie dies einst ein Parteigründer versprach.

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Martin Kocher: Arbeit & Wissenschaft

Hat zwei türkise Frauen ersetzt: Die Ex-Ministerinnen Christine Aschbacher und Margarete Schramböck. Auf Bitte von Ex-Kanzler Sebastian Kurz wechselte Kocher im Jänner 2021 von der IHS-Spitze an jene des Arbeitsministeriums. Seit Mai 2022 ist der Ökonom auch für die Wirtschaft zuständig.

„Superministerium“

Sein Vermächtnis hätte die Reform der Arbeitslosenversicherung werden sollen – was am Widerstand der Grünen scheiterte. Kocher war für vieles zuständig, aber was bleibt übrig? Die Arbeitslosigkeit ist nie explodiert, trotz multipler Krisen.

Experte

Wenn Kocher Schlagzeilen produziert hat, dann meist unabsichtlich. Hat dennoch positive Vertrauenswerte, gilt weiterhin als Experte und wird kein Fall fürs AMS – sondern Nationalbank-Chef.

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Magnus Brunner: Finanzen

Ja, der Vorarlberger gehörte von Anfang an zum Regierungsteam. Als Luftfahrt-Staatssekretär im Klimaschutzministerium eher ohne Auftrag, übernahm er Ende 2021 das Finanzressort von Gernot Blümel – und mauserte sich zum beliebtesten ÖVP-Minister mit Parteimitgliedschaft.

Ausgeglichen

Nicht nur in der Causa „Wien Energie“ zeigte er kommunikatives und politisches Talent – zum Leidwesen der Wiener SPÖ. Sein inhaltlich größter Erfolg ist die Abschaffung der kalten Progression, sein Defizit teils tiefrote Budgetzahlen. Er mahnte Sparmaßnahmen ein, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Jetzt will die EU Österreich zum Sparen zwingen, was Brunner seinem Nachfolger überlässt. Als Schattenkanzler gehandelt, zieht es ihn wohl eher nach Brüssel. Das Ziel: EU-Kommissar

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Klaudia Tanner: Landesverteidigung 

Sie war die erste Frau an der Spitze dieses Ressorts. Doch es wäre  verfehlt, die Amtszeit der heute 54-Jährigen auf dieses Faktum  zu reduzieren. Unter Tanner wurde das Verteidigungsbudget in einer nie da gewesenen Art und Weise erhöht. Die Armee hat Panzer und  Hubschrauber beschafft, man kümmert sich mit einem Personalpaket darum, als Arbeitgeber attraktiv zu sein.

Aufrüstung

Die Aufrüstung ist  natürlich vor allem den internationalen Entwicklungen geschuldet. Doch man muss Tanner zugutehalten, dass sie sich Thema und Ministerium zu eigen gemacht hat, sprich: Sie machte sich mit der Materie vertraut und lässt selbst bei Milliarden-Projekten wie dem Sky Shield keinen Zweifel offen, wo Österreich steht. Als Wermutstropfen  bleibt: Bei der Miliz besteht in vielem weiter Handlungsbedarf.

Türkis-Grüne Bilanz: Was vom Besten aus beiden Welten in Erinnerung bleibt

Alexander Schallenberg: Europäische und internationale Angelegenheiten

Als Außenminister der Regierung Bierlein wurde er öffentlich bekannt, mit seinem „Moria-Geschrei“-Sager in der ZiB2 und als Kurzzeit-Kanzler durch die Einführung der Impfpflicht für einige zum Feindbild.

Diplomatisches Geschick

Der Vielsprachige beherrscht das politische wie Tanz-Parkett, raucht mit seinem russischen Pendant Sergej Lawrow beim Heurigen und  bringt US-Außenminister Antony Blinken oder kommende Woche Indiens Premier Narendra Modi nach Wien und damit in die internationalen Schlagzeilen. Er kam vielen als erster Kandidat für den  EU-Kommissar-Posten in den Sinn - will aber partout nicht.

Kulturliebhaber

Als Kanzler lag die Kultur bei ihm. Der Gast fast aller Festspiele wurde neulich auch  beim AC/DC-Konzert gesichtet.  

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