Mindestsicherung: Rund 30 Prozent holen sich Leistung nicht ab

Demo gegen neue Mindestsicherung in Wien der Volkshilfe
2015 verzichteten rund 73.000 Haushalte auf Inanspruchnahme der Mindestsicherung.

Die Mindestsicherung wird von deutlich weniger Personen bezogen, als eigentlich Anspruch darauf hätten. Rund 30 Prozent der Berechtigten (rd. 73.000 Haushalte) holten sich die Geldleistung 2015 nicht ab, wie aus einer Studie des Europäisches Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung hervorgeht. Grund sind u.a. Scham, Sorgen vor fehlender Anonymität oder vor dem Zugriff aufs Eigenheim.

Laut der Studie, die Mitautor Michael Fuchs und Sozialexperte Martin Schenk (Armutskonferenz) in einem Hintergrundgespräch vor Journalisten vorstellten, schrumpfte das Ausmaß der Nicht-Inanspruchnahme von 2009 auf 2015 (aktuellste verfügbare Daten) allerdings signifikant. Während auf die Geldleistung 2009 (damals noch unter dem Label "Sozialhilfe") noch knapp mehr als 53 Prozent der Anspruchsberechtigten verzichteten, sank dieser Prozentsatz bis 2015 auf 30 Prozent.

Politische Maßnahmen wirkten

Grund für die bessere Inanspruchnahme sind laut der Studie die von der Politik durchgeführten Maßnahmen. So wurde u.a. die Rückzahlungspflicht bei späterem Einkommen der Hilfsempfänger abgeschafft; auch wurde der Regress auf die Kernfamilie beschränkt. Ebenso beigetragen hat laut den Studienautoren, dass der "stigmatisierende" Sozialhilfe-Krankenschein durch die E-Card abgelöst wurde. Darüber hinaus kam es zu Verbesserungen bei den Verfahren, so wurde nach 2009 etwa eine Entscheidungsfrist von drei Monaten ab Beantragung eingeführt.

Bei diesem Punkt befürchtet Schenk in der von der ÖVP-FPÖ-Regierung fixierten Neuregelung der Mindestsicherung (inklusive Rück-Benennung auf "Sozialhilfe) einen Rückschritt, denn künftig sieht das Grundgesetz keine solche Frist mehr vor.

Ebenso zur stärkeren Inanspruchnahme geführt hat laut der Studie, dass der Antrag im Gegensatz zu früher bei Bezirkshauptmannschaften gestellt werden kann, was mehr Anonymität als auf Gemeindeebene bietet. Auch verbesserte Informationen (etwa via Internet-Webseiten), transparentere und höhere Freibeträge (bei Vermögen und Erwerbseinkommen) sowie die Thematisierung der Verbesserungen in den Medien habe die Betroffenen dazu bewogen, vermehrt einen Antrag zu stellen.

Viele Gründe für Verzicht

Die Gründe für den Verzicht auf die Beantragung der Geldleistung sind vielschichtig. So habe sich gezeigt, dass eine geringere "Armutslücke", der Besitz von Haus oder Eigentumswohnung oder ein höheres Bildungsniveau von einer Inanspruchnahme abhalten. Auch Scham, ausgelöst durch fehlende Anonymität, sei ein Hemmnis. Dies zeigt sich etwa darin, dass in Städten der Zugriff auf die Unterstützungsleistung höher ist als in ländlichen Gemeinden, wie Fuchs ausführte. Ein weiterer Grund könnte dabei sein, dass es in urbanen Räumen ein dichteres Netz an Beratungseinrichtungen (NGOs) gibt, so Sozialexperte Schenk.

Auch jene Personen, die in Arbeit stehen, aber aufgrund geringen Einkommens Anspruch auf eine "Aufstockung" hätten, verzichten oft auf die Mindestsicherung. Grund dafür könnte u.a. fehlendes Wissen über diesen Anspruch sein, so die Experten. Eher in Anspruch genommen wird die Mindestsicherung von Alleinerziehern. Dies dürfte einerseits auf deren höheren Geld-Bedarf zurückzuführen sein, andererseits auch darauf, dass für diese Personengruppe die Hemmschwelle niedriger ist, da man die Bedürftigkeit eher rechtfertigen könne.

Verbesserungen nötig

Die Autoren sehen freilich weiteres Verbesserungspotenzial: Hätten 2015 alle Anspruchsberechtigten die Mindestsicherung in Anspruch genommen, so wäre die Armutsgefährdungsrate um 0,7 Prozentpunkte gesunken. Nach wie vor fehlen würde eine "Soforthilfe" für jene, die innerhalb kürzester Zeit finanzielle Mittel notwendig haben. Auch gebe es keine Anbindung der Richtsätze an die tatsächlichen Lebenskosten - etwa beim Nahrungsbedarf, den Ausgaben für Kleidung sowie für die soziale und kulturelle Teilhabe.

Kritik übten die Experten auch an den noch immer bestehenden "nicht gerechtfertigten" Unterschieden zwischen den Bundesländer - ein Fakt, der sich auch durch die im April im Nationalrat von den Regierungsparteien ÖVP und FPÖ beschlossenen Neuregelung nicht ändern wird, wie Schenk anmerkte. Denn die im Grundsatzgesetz fixierten Standards lassen den Ländern weiterhin viel Spielraum, merkte er an. Auch habe die von der Politik geführte Debatte der vergangenen Monate erneut Stigmatisierungseffekte gebracht, betonten die Sozialexperten.

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