Mentale Verletzungen zählen mehr als körperliche

Bis zu 40 Prozent der Flüchtlingskinder haben psychische Traumata
Bis zu 40 Prozent der Flüchtlingskinder haben mentale Schäden erlitten. Auf Therapie warten sie oft lange.

Wenn Flüchtlinge bitterkalte Nächte in beheizten Zelt zubringen, dann stellt man sich als Beobachter schnell die Frage: Wie lange dauert es wohl, bis diese Menschen schwer erkranken und kraft ihrer Zahl zum gesundheitspolitischen Risiko werden?

Mentale Verletzungen zählen mehr als körperliche
Interview mit dem deutschen Mediziner Helmut Brand am 16.11.2015 in Wien.

Helmut Brand ist der Mann, der solche Fragen beantwortet. Der Deutsche ist Arzt und Inhaber der Jean-Monnet-Professur für europäische-öffentliche Gesundheit. Im konkreten Fall beruhigt der Experte. "Der durchschnittliche Europäer muss durch die Flüchtlinge keine größeren Infektionen fürchten", sagt Brand, nebstbei auch Präsident des Europäischen Gesundheitsforums Gastein. "Das Immunsystem der Österreicher funktioniert zumeist besser als das der geschwächten Zuwanderer." Großflächige Seuchen seien kein realistisches Szenario.

Ganz generell ist die körperliche Gesundheit der Zuwanderer für Brand ohnehin nicht die große Herausforderung. "Physische Traumata wie Unterernährung sind nach wenigen Monaten behoben. Auch wissen wir, dass es einen ,Healthy-Migrant-Effekt‘ gibt." Dieser meint, dass nur diejenigen eine Flucht antreten, die sie auch überleben. "Alte und Schwache gehen erst gar nicht los."

Mentale Verletzungen zählen mehr als körperliche
peter stippl

Die wirkliche Herausforderung seien die geistigen Traumata der Flüchtlinge. Brand: "Wir wissen, dass bei Fluchtbewegungen etwa 20 bis 40 Prozent der Kinder mentale Schäden erleiden. Kinder, die stumm sind, die schlecht schlafen und idealerweise schnell eine therapeutische Hilfe bekommen – das ist das echte Thema."

Also ein großflächiger Ausbau der psychotherapeutischen Einrichtungen?

Man könnte meinen, Peter Stippl würde diese Forderung unterstützen, immerhin ist er Präsident des Psychotherapeutenverbandes.

Laut Stippl braucht es aber gar nicht mehr Personal: "Wir sind mit 8000 Therapeuten gut aufgestellt in Österreich." Stippl war selbst im Sommer in Nickelsdorf im Einsatz, er hat nicht den Eindruck, "dass wir bei den Flüchtenden sehr aufwendige Behandlungen in hoher Zahl benötigen".

Angesichts der langen Wartezeiten auf Therapieplätze plädiert Stippl aber für niederschwellige Hilfe. "Zuwanderer müssen aufgrund des benötigten Dolmetschers oft mehr als ein Jahr auf einen Therapieplatz warten. Hier wäre viel erreicht, wenn wir in Flüchtlingsheimen flächendeckend Diskussionsrunden mit professioneller Betreuung einrichten." Oft genüge ein Termin pro Woche. "Das klingt nach wenig, bedeutet für die Betroffenen aber, dass sie überhaupt einmal ankommen können."

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