Mediziner: "In 10 bis 15 Jahren wird jedes Baby Genom-Analyse bekommen"

Symbolbild menschlicher DNA-Stränge.
KURIER: Jedes Medikament hat einen Beipackzettel und Nebenwirkungen. Wozu sollte ich eine Genom-Analyse machen?
Stefan Wöhrer: Es gibt Medikamente, die wirken einfach nicht, wiewohl sie gut vertragen werden. Neben der Wirksamkeit spielen die Nebenwirkungen natürlich ebenfalls eine wichtige Rolle. Tausende Österreicher nehmen beispielsweise Clopidogrel. Das bekommen die meisten Herzinfarkt-Patienten und Menschen, die einen Stent haben. Das Medikament dient dazu, dass die geöffneten Herzkranzgefäße sich nicht wieder verschließen. Bei zirka 10 bis 20 Prozent der Europäer führt eine genetische Veranlagung allerdings dazu, dass eben dieses Medikament unwirksam ist.
Was passiert im schlimmsten Fall?
Dass nach einem halben Jahr trotz Medikation der Stent sich wieder verschließt und ein nächster Herzinfarkt droht. Durch den Test lässt sich die Unwirksamkeit der Medikation allerdings vorhersagen und durch Änderung der Medikation verhindern.
Lässt sich die Unwirksamkeit bei Herzinfarktpatienten nicht anders eruieren?
Nein. Blutdruck lässt sich messen, die Wirksamkeit von Plättchenhemmern beispielsweise nicht genug. Bei der Einnahme von Blutfettsenkern, so genannten Statinen, kann es bei 2 bis 5 Prozent aller Europäer zu Muskelschmerzen bzw. der Auflösung der Muskulatur kommen.
Wenn diese Muskelschmerzen auftreten, dann folgt in nächster Konsequenz was?
Ärzte weisen vor der Einnahme der Blutfettsenker immer darauf hin, dass bei Auftreten von Muskelschmerzen das Medikament sofort abzusetzen ist, da es zu Nierenversagen kommen kann.

Stefan Wöhrer
Wie funktioniert der Genom-Test?
Der Test kann zu Hause durchgeführt werden. Die Patienten können den Backenabstrich selbst vornehmen und mittels Kuvert ans Labor zurückschicken. Aufbauend auf der Gen-Analyse kann dann vorhergesagt werden, welche Medikamente wirksam oder unwirksam und wo Nebenwirkungen zu erwarten sind.
Refundiert die Kasse etwas von den Kosten, die derzeit bei 389 Euro liegen?
Privatversicherte bekommen die Kosten in den meisten Fällen rückerstattet. Die ÖGK zahlt noch nichts. Das ist in den USA wie Europa so. Wir kämpfen überall damit, dass die Genom-Analyse von Versicherungen nicht übernommen wird, obwohl 30 Jahre wissenschaftliche Expertise darin stecken, die Menschenleben retten kann.
Kann auch die Nichtwirksamkeit oder die Nebenwirkung eines anderen Präparats festgestellt werden?
Ja. Mittels Online-Tool kann jeder selbstständig jedes Medikament – ob Aspirin, Mexalen oder Blutfettsenker – eingeben und nachsehen, ob es für ihn passt. Erwähnt muss allerdings werden, dass nicht bei allen Medikamenten eine Gentest verfügbar ist, wenn es dazu noch keine Studien gibt. In 10 bis 15 Jahren wird jedes Baby bei der Geburt eine Genom-Analyse bekommen.
Warum sollte das passieren?
Wir alle brauchen irgendwann im Leben ein Medikament - ob Antibiotikum, Blutfettsenker oder -verdünner. Umso schneller und früher Nicht- oder Unverträglichkeiten herausgefunden werden, desto besser für die Gesundheit eines jeden. Wenn Sie sich erinnern: Es gab Kinder, die verstorben sind, weil sie die Medikation nach einer Mandel-Operation oder aber die Narkose nicht vertragen haben.
Flächendeckende Genom-Tests sind ein frommer Wunsch in einer wissenschaftsfeindlichen wie wirtschaftlich schwierigen Zeit, oder?
Vor 10 Jahren hat das Verfahren noch 250.000 Euro gekostet. Heute sind wir bei knapp 400 Euro. Sollte es breitflächig und vermehrt angewandt werden, dann wird die Analyse – ähnlich wie bei Corona-Tests – noch günstiger. Es macht mich verrückt, dass darüber in Österreich nicht einmal diskutiert wird. Eine Dickdarm-Spiegelung kostet gleich viel wie eine Genom-Analyse, ist aber im Gegensatz zu dieser in der Vorsorge-Untersuchung enthalten. Die Gene, das bitte ich zudem zu bedenken, bleiben ein Leben lang gleich. Von diesem einmaligen Test kann ich ein Leben lang profitieren.
Der Test gibt aber auch Aufschluss über Dinge, die ich vielleicht gar nicht wissen will, wie todbringende, unheilbare Krankheiten.
Angelina Jolie hat mit Bekanntmachen ihres vererbten Brustkrebs-Gens wahrscheinlich tausenden Frauen das Leben gerettet. Aber ja, die Analyse fördert auch Information zutage, die ich vielleicht nicht wissen will.
Wie viele Menschen verfügen in Österreich über eine Genom-Analyse, wie Sie sie anbieten?
Wir haben rund 2.500 Patienten, zudem gibt es weitere Anbieter in Österreich, über deren Kundenzahl ich nicht Bescheid weiß, weil diese nicht erhoben wird. Das Problem ist, dass nicht alle praktischen Ärzte und Fachärzte mit dem Thema be- und vertraut sind. Wenn Patienten Pech haben, dann gelangen sie an Kollegen, die mit der Analyse nichts anfangen können. Dabei ist die Wissenschaft, das hat uns die Pandemie gezeigt, immer schneller, effizienter und treffsicherer und die Technik immer besser. Wir haben es mit einer Diskrepanz zu tun: Von Tests über Nahrungsmittelunverträglichkeiten haben die meisten schon gehört. Von Genom-Analysen wissen die wenigsten – allein, was deren Aussagekraft betreffend Medikation betrifft.
Das heißt: Die Politik ist gefordert und das Gesundheitswesen?
Ja, denn die Wissenschaft überholt uns gerade und das Medizinsystem hinkt hinterher. Ende 2023 wird der Test für das Labor nur mehr 200 US-Dollar kosten. Ich plädiere für eine Taskforce von Politik, Wissenschaft, Ärzteschaft, Versicherungen gemeinsam mit Ethikern und anderen, um die Vorteile der Analyse zu eruieren und die ökonomischen Vorteile, die allein dem Gesundheitssystem dadurch erwachsen können, abzuwägen. Menschen, die es sich leisten können, ist es egal, ob der Test 389 Euro oder 1000 Euro kostet. Einem Mindestpensionisten, der 15 Medikamente nehmen muss und mit Nebenwirkungen zu kämpfen hat, allerdings nicht. Und dem Gesundheitswesen darf es nicht egal sein – aus medizinischen wie wirtschaftlichen Gründen.
Gibt es Zahlen, die belegen, was Sie sagen?
Finnische Berechnungen zeigen, dass sich die Investition in einen Test innerhalb von zwei Jahren amortisiert. Das betrifft beispielsweise Folgekosten, die durch einen zweiten Herzinfarkt wegen falscher Medikation dem gesamten Gesundheitssystem entstehen.
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