Abseits von diesem zeitlichen Zufall ließ die ÖVP zuletzt kaum eine Gelegenheit aus, um im politischen Alltag Anleihe an dem populären Nachkriegspolitiker zu nehmen. So etwa Bundeskanzler Christian Stocker in seiner Regierungserklärung Anfang März, als er sich auf Figl berief, der mit SPÖ-Chef Adolf Schärf seinerzeit ein Bündnis der „konstruktiven Kräfte“ eingegangen sei, um den Wiederaufbau zu meistern.
Ähnlich auch Stockers Vorgänger Karl Nehammer 2023 mit seiner Herbst-Kampagne „Glaub an Österreich“. Eine unverkennbare Anspielung auf Figls berühmte Weihnachtsrede von 1945.
Doch was steckt hinter diesen historischen Bezugnahmen? Und werden sie von den heutigen Wählern überhaupt noch verstanden?
Dass die ÖVP gemeinsam mit der SPÖ die Zweite Republik nach dem Krieg wiederaufgebaut hätten, sei eine historische Realität, sagt der Politologe Peter Filzmaier zum KURIER. Insofern sei es naheliegend, dass man versuche, an diese so bedeutende Ära der Parteigeschichte auch heute noch anzuknüpfen.
Aus der Zeit gefallen
So plausibel die Beschwörung der Gründerväter der Zweiten Republik sei, ohne Fallstricke sei sie nicht, wie der Experte betont. „Die ÖVP läuft Gefahr, den Eindruck zu erwecken, aus der Zeit gefallen zu sein. Die Generation TikTok wird man mit Leopold Figl nicht erreichen, sie kennt nicht einmal mehr den Kalten Krieg aus persönlicher Erfahrung.“ Figl sei für sie eine völlig abstrakte Person aus den Geschichtsbüchern, ähnlich wie es heute Bismarck für die Deutschen sei.
Anderseits seien es die 60- bis 80-Jährigen, die mittlerweile die letzten Stammwähler der Türkisen seien. „Sie kann man mit solchen Botschaften sehr wohl an der Stange halten, kennen sie doch die Zeit rund um 1945 zumindest noch aus der Erzählung ihrer Eltern. Insofern sei Figl tatsächlich eine passende Identifikationsfigur, zumal er selbst Opfer der Verfolgungen des NS-Regimes war.
Für Filzmaier sei es dennoch eine „Gratwanderung“, wenn Stocker in seiner Regierungserklärung angesichts der aktuellen maroden Wirtschaftslage, die die neue Koalition bewältigen muss, die Zusammenarbeit von Schwarz und Rot nach dem Kriegsende beschwört. „So groß die aktuelle Krise infolge der Pandemie und des Krieges in der Ukraine auch ist – mit einem Weltkrieg ist sie nicht vergleichbar.“
SPÖ: Lieber Kreisky als Renner
Weniger leicht tut sich die SPÖ, solche historischen Bezüge herzustellen, obwohl mit Karl Renner auch in ihrer Ahnenreihe einer der Gründerväter der Zweiten Republik steht. Zunächst als Staatskanzler der provisorischen Regierung, dann als Bundespräsident.
Als jemand, der 1938 offen den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland begrüßte, eignet er sich jedoch nur bedingt als Identifikationsfigur.
Wohl auch deshalb nimmt diese Rolle bis heute „Sonnenkönig“ Bruno Kreisky ein, der erst 25 Jahre nach Kriegsende an die Regierungsspitze aufstieg und 13 Jahre Kanzler bleiben sollte.
Strache rappt mit Figl
Was jedoch wesentlich bemerkenswerter ist: Auch die FPÖ nimmt immer wieder Bezug auf Figl, obwohl ihm wohl kaum Nähe zu den Blauen bzw. deren Vorgängerpartei VdU nachgesagt werden kann. Bereits 2014 entbrannte darüber ein skurriler Streit: Der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hatte Figls berühmte Worte „Österreich ist frei“ anlässlich der Staatsvertragsunterzeichnung 1955 in einem Rap-Video, in dem er gegen die EU wetterte, verwendet. Der damalige ÖVP-Generalsekretär Gernot Blümel reagierte empört auf Straches Vereinnahmung eines „Säulenheiligen der ÖVP“ und forderte eine Entschuldigung bei Figls Familie.
Was die FPÖ nicht davon abhielt, die selbe historische Szene 2022 für die Wahlkampf-Plakate ihres Präsidentschaftskandidaten Walter Rosenkranz zu verwenden. Konkret das berühmte Bild, das Figl mit dem Staatsvertrag in Händen auf dem Balkon des Belvedere zeigt. Der Slogan dazu stammte freilich nicht vom ÖVP-Außenminister, sondern aus der blauen Wahlkampfschmiede: „Holen wir unser Österreich zurück“.
Wenn es gerade passt, greift man bei den Blauen sogar auf rote Ikonen zurück: „Bruno Kreisky würde sich im Grab umdrehen“, so Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch zuletzt zu den Pensionsplänen der Regierung.
Für Filzmaier sind solche Aussagen nichts weiter als geschickt verpackte Versuche, die heutigen Akteure von ÖVP und SPÖ abzuwerten. Obendrein tue sich die FPÖ schwer, parteieigenes Personal aus der unmittelbaren Nachkriegszeit als Vorbild heranzuziehen. Standen doch an der Wiege der FPÖ unter anderem mit Anton Reinthaller und den späterem Parteichef Friedrich Peter zwei SS-Offiziere. Letzterer diente in einer Einheit, die in der Sowjetunion in schwere Kriegsverbrechen verwickelt war.
Und so musste in letzter Zeit immer wieder der 2008 verstorbene Ex-Parteichef Jörg Haider als blauer Säulenheiliger herhalten, der in den Reden und Facebook-Postings von Parteichef Herbert Kickl beschworen wird. „Ganz so“, sagt Filzmaier, „als hätte es keine Abspaltung von Haiders BZÖ gegeben.“
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