"Krise ist Gefahr für die Demokratie"
KURIER: Herr Kotrschal, durch die Ausgangsbeschränkungen können Sie als Verhaltensforscher ein gesellschaftliches Massenexperiment beobachten, das es so noch nie gegeben hat. Ist das wissenschaftlich gesehen ein Glücksfall für Sie?
Kurt Kotrschal: Diese Krise ist ein faszinierendes Experiment. In sonstigen Friedenszeit kann man so ein Experiment nicht durchführen, denn wer vernichtet schon freiwillig Wirtschaft. Ich kann nur hoffen, dass die Wissenschaft entsprechend drauf schaut. Denn nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Es ist so sicher wie das Amen im Gebet, dass wir in paar Jahren das nächste globale Virus haben werden.
Was werden die gesellschaftlichen Folgen sein: Neuanfang oder Apokalypse?
Weder noch. Um eine Prognose abzugeben, muss man gar nicht wild spekulieren. Denn wir haben eine ganz gute Kenntnis der menschlichen Natur. Die nun gesetzten Maßnahmen werden zur Vereinsamung vieler Menschen führen. Das wiederum löst diverse Stressverhalten aus, wie etwa Stressfressen. Ein Anstieg des Übergewichts und des Alkoholkonsums werden die Folgen sein. Die momentane Situation rettet Leben, wird aber auch Leben kosten. Es werden Menschen früher sterben.
Warum?
Weil soziale Einsamkeit tötet. Das ist einfach ein menschliches Grundgesetz. Die alten Menschen gehen ja jetzt schon einkaufen, um soziale Kontakte zu haben, obwohl sie zu Hause bleiben sollten. Auch wenn die digitalen Techniken viel abfedern. Mit dem Vierteltelefon wäre die Situation die Hölle. Aber Faktum ist: Wir sind hauthungrige Menschen. Denn das Bedürfnis der Menschen ist, in der Nähe von netten Menschen zu sein und berührt zu werden.
Die Maßnahmen gegen Corona werden voraussichtlich maximal zwei bis drei Monate dauern. Auch dieser kurze Zeitraum wird schon Leben durch Vereinsamung kosten?
Natürlich. Denn wenn das Experiment beendet ist, werden manche Gewohnheiten weiterleben. Es wird die Tendenz geben, dass die Menschen wesentlich mehr Homeoffice machen wollen, weil sie nun gelernt haben, die digitalen Medien besser zu nützen. Das muss aber nicht für alle Bereiche des Lebens schlecht sein. Für den Klimaschutz etwa ist es gut, wenn man Autofahrten und Flüge verringert.
Berufe wie Pfleger oder Regalbetreuer erleben plötzlich eine gesellschaftliche Aufwertung. Warum dominiert in Krisenzeiten nicht der Egoismus, sondern wird der Zusammenhalt größer?
Die Kohäsion ist die wichtigste Basis für individuelle Zufriedenheit und für Volksgesundheit. Wie kommt es zu kohäsiven Gesellschaften? Immer durch Krisen. Das hat teilweise absurde Formen. Den Engländern ist es in dieser Beziehung beispielsweise am besten gegangen während des Bombardements der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Da gab es kaum Herzinfarkte oder andere Erkrankungen. Es entwickelte sich eine unglaublich kohäsive, fast egalitäre Gesellschaft. Die Queen ist damals ja auch als Lastwagenfahrerin im Einsatz gewesen. Die Kohäsion hält auch die Ängste im Zaum. So einen Effekt erleben wir jetzt auch ein wenig. Ein weiterer unglaublicher menschlicher Antrieb ist das Bedürfnis, gerecht behandelt zu werden. Die momentanen Maßnahmen treffen nicht nur einen Teil der Gesellschaft, sondern sie treffen alle. Dadurch rücken die Menschen zusammen. Bestes Beispiel dafür ist die Initiative, dass man nicht bei Amazon online bestellen soll, sondern online bei den heimischen Produzenten, damit die Steuer im Inland bleibt.
Erleben wir gerade eine Renaissance des Nationalbewusstseins?
Wir erleben jetzt schon eine kritische Diskussion über die Globalisierung. Die Bedeutung der EU und der Vereinten Nationen wird in unseren Köpfen gewaltig abnehmen. Denn wir merken plötzlich: Der Nationalstaat kann doch was, und unsere Sehnsucht nach dem starken Mann, den sich laut Umfragen 40 Prozent der Österreicher wünschen, wird jetzt in einem unglaublichen Maße befriedigt, indem wir eine Regierung haben, die durchaus vernünftig und auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen die Lagen beurteilt und auch entschlossen handelt. Das gibt den Menschen im Land Sicherheit.
Ist die Corona-Krise eine einmalige Chance für Sebastian Kurz, wenn er sich weiterhin als Krisenmanager bewährt, die absolute Mehrheit zu bekommen?
Die nächste Wahl ist weit weg. Schaden tut es ihm auf keinen Fall. Kurz und & Co. können sich als Krisenmanager profilieren. Wenn wir unsere Politik mit der deutschen oder englischen Regierung vergleichen, gibt das ein gutes Gefühl. Aber auch das hat seine Gefahren.
Nämlich, dass unsere liberale Demokratie doch ein sehr fragiles Konstrukt ist ...
Wir erleben gerade, dass die liberale Demokratie ordentlich Macht ausüben kann. Da müssen wir unglaublich aufpassen. Denn die Menschen gewöhnen sich schnell an den paternalen Stil wie in Ungarn. Momentan erlässt die Regierung, ohne mit der Wimper zu zucken, weitreichende Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten, und wir akzeptieren das. Jetzt ist das auch okay. Nur dürfen wir uns nicht daran gewöhnen – das ist eine Gefahr für die Demokratie. Denn die Bevölkerung ist schnell der Meinung: „Schaut euch an, wie gut das alles geklappt hat.“ Aber die wirklichen Probleme der Welt, nämlich die Klimafrage, schaffen wir nicht mit der Politik der starken Männer. Das sieht man an Trump & Co.
Diese Bedenken haben Sie auch, obwohl die Grünen mitregieren?
Macht korrumpiert. Diese Art von Machtausübung, egal ob das von Rudolf Anschober oder Sebastian Kurz kommt, ist zwar fachlich gut gemacht, aber muss man davon ausgehen, dass man sich daran gewöhnt. Da muss man vorsichtig sein.
Sind die Maßnahmen der Regierung nicht auch ein Grenzgang. Jetzt sind wir in der ersten Woche der Ausgangsbeschränkung, wo viele die Zeit nützen, unerledigte Dinge in Angriff zu nehmen. Kann die Stimmung in zwei oder drei Wochen nicht schnell kippen. Was passiert dann in der Gesellschaft?
Die Einsicht, dass das Virus gefährlich ist und vor allem Menschen über 60 töten kann, geht über den Verstand. Der ist aber nicht allzu mächtig gegenüber unserem Bauchgefühl. Sonst würden die alten Menschen nicht in Wien in den Supermärkten – wider aller Einsicht – herumlaufen. Wenn die Menschen weiter so unvernünftig sind, wird es weitere Verschärfung geben. Ob die Stimmung kippt oder nicht, wird auch davon abhängig sein, ob die Hilfsmaßnahmen der Regierung greifen werden. Sobald die Menschen kein Bargeld mehr haben und die Lebensmittelversorgung vielleicht wackelt, wird die Meinung auftauchen: „Die paar toten Alten sind uns egal.“ Die Politik von Boris Johnson ging bis vor ein paar Tagen in diese Richtung. Sie war sehr zynisch. Für England hätte das 250.000 Tote bedeutet. Aber die Gefahr besteht auch bei uns, wenn die Jungen merken, dass die alten Menschen, für diese Maßnahmen eigentlich gedacht sind, sich am wenigsten daran halten und nicht schätzen.
Wird die Entschleunigung ein Umdenken in der Leistungsgesellschaft bewirken?
Die Atempause gibt die Chance, zur Besinnung zu kommen: Müssen wir so viel Auto fahren? Müssen wir so viel fliegen? Brauchen wir den vielen Firlefanz, den die Konsumgesellschaft bietet, wirklich? Ein bescheidener Lebensstil ist angenehm. Wenn die Einschränkungen aufgehoben werden, wird eine erste Reaktion sein, dass die Menschen auf den Putz hauen. Aber danach wird die Einsicht bleiben, dass wir vieles, was wir bisher täglich genutzt haben, nicht wirklich brauchen. Es wäre klug von der Politik, wenn man diese Krise für eine tief greifende ökologische Reform nützen würde. Nach dem Motto: Wir starten jetzt anders, als wir runtergefahren sind. Dafür gäbe es viel Verständnis in der Bevölkerung.
Also doch ein Neustart?
Diese Vorgaben müssen von der Politik kommen. Die Wirtschaft reagiert auf Kostenstrukturen und sonst fast nichts. Die muss man ändern. Jetzt hat man die Chance umzulenken.
Mensch- und Wolfsforscher
Kurt Kotrschal (66) ist einer der renommiertesten Verhaltensforscher Österreichs. Jahrzehntelang hat er sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Tier beschäftigt. Er ist Mitbegründer des Wolfscience Center in Ernstbrunn. Seit Juli 1990 leitet er die Konrad Lorenz Forschungsstelle
Buchautor
Er hat Bücher über das Leben mit Hunden geschrieben und zuletzt über den Menschen. Der Untertitel lautet: „Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen“
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