Klimaschutz-Schock? Was wir Bürger uns selbst alles zumuten
Hand aufs Herz, was denken Sie?
- Soll es eine Pflicht für Photovoltaik-Anlagen auf Dächern geben?
- Soll für den Klimaschutz überall das Tempolimit für Benzin- und Dieselautos reduziert werden?
- Soll es spätestens ab 2030 ein Zulassungsverbot dieser Autos geben? Sollen weniger Rinder gezüchtet werden, um die Treibhausgase aus der Tierhaltung zu verringern?
- Soll ein weitgehender Verzicht auf Fleisch- und Milchprodukte durch Aufklärung erfolgen?
- Sollen alle Produkte verpflichtend mit einer Klima-Ampel gekennzeichnet werden?
- Sollen Futtermittel, die auf Rodungen im Ausland gründen, nicht mehr importiert werden?
- Soll Erneuerbare Wärmeversorgung günstiger gemacht werden als fossile?
Ja, ich will!
In Deutschland hat ein Bürgerrat zu all diesen Fragen, und noch einigen mehr, Ja gesagt.
Es war ein bemerkenswertes Experiment, das da im Sommer zu Ende gegangen ist, und Ergebnisse geliefert hat, die so vielleicht nur die wenigsten erwartet hätten. Seit wenigen Tagen liegt das Ergebnis auch schriftlich vor.
Worum geht es: Im deutschen „Bürgerrat Klima“ kamen 160 per Zufallsverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger zusammen. Sie berieten in 12 Sitzungen und mehr als 50 Stunden mögliche Maßnahmen im Umgang mit der Klimakrise und entwickelten ihre Empfehlungen an die Politik. Das Thema lautete: „Wie gestalten wir Klimapolitik: Gut für uns, gut für unsere Umwelt und für unser Land?“
Aufgrund der Pandemiesituation fand der Bürgerrat vollständig digital statt. Um das Thema greifbarer zu machen, wurden vier besonders klima- und alltagsrelevante Handlungsfelder ausgemacht: „Energie“, „Mobilität“, „Gebäude und Wärme“ und „Ernährung“. Kleinere Gruppen von etwa 40 Personen beschäftigten sich dann jeweils mit einem dieser Themen. Im Plenum, mit allen Teilnehmenden, wurde schließlich diskutiert und beraten, wie und mit welchen Maßnahmen diese Transformation auch umgesetzt werden kann.
Und am Ende des Bürgerrats stimmten alle Bürgerrätinnen und Bürgerräte per Mehrheitswahl ab, welche Leitsätze und Empfehlungen aus dem Bürgerrat an die Politik übergeben werden (siehe Grafik). Während des gesamten Prozesses erhielten die Teilnehmenden Informationen von teils hochkarätigen Referentinnen und Referenten aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, die zudem mit kurzen Vorträgen alle auf denselben Informationsstand brachten und dabei verschiedene Sichtweisen vermittelten.
Leitsätze
Das Hauptergebnis der Zukunftswerkstatt sind 10 übergeordnete Leitsätze. Diese wurden in mehreren Schritten im Verlauf des Bürgerrats von den Bürgerrätinnen und Bürgerräten entwickelt und abgestimmt. Die Leitsätze bieten eine deutliche Orientierung für die großen Fragen, die sich im Zuge der Klimawende stellen müssen:
- Das 1,5-Grad-Ziel hat oberste Priorität.
- Der Klimaschutz dient dem Allgemeinwohl und hat Priorität vor Einzelinteressen.
- Für jedes Handeln, das Auswirkungen auf das Klima hat, muss Aufklärung und Transparenz gegeben sein.
- Für die Klimawende müssen alle Verantwortung übernehmen und zu Veränderung bereit sein.
- Klimaschutz muss Bestandteil aller Bildungsangebote sein.
- Die Klimawende muss generationengerecht sein.
- Die Klimawende muss sozial gerecht sein.
- Die Klimawende muss global gerecht sein.
- Die Zukunft der Wirtschaft muss klimaneutral sein.
- Klimarelevantes Handeln muss direkte Auswirkungen für die Handelnden haben.
Handlungsfeld Energie
Damit die Treibhausgasemissionen bei der Energiegewinnung sinken, müssen die bisher genutzten klimaschädlichen fossilen Energiequellen wie Kohle, Gas und Öl durch nachhaltige, klimafreundliche Energiequellen ersetzt werden.
Die Leitsätze beim Thema Energie lauteten:
- Der Staat ist in der Verantwortung, einen Rahmen zur Orientierung für die Energiewende zu setzen. Es soll dabei unbürokratisch, parteiübergreifend und humanistisch im Sinne der Generationengerechtigkeit gehandelt werden. Die Geschwindigkeit der Energiewende hat Vorrang vor den Kosten, wobei der Endverbraucher finanziell am geringsten belastet werden sollte. Die Versorgungssicherheit soll gewährleistet bleiben. Die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger muss durch verstärkte Partizipation gewährleistet werden.
- Die gesamte Energieversorgung Deutschlands soll bis 2035 zu 70% und bis 2040 zu 90% aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Im Stromsektor sollen die 100% bereits bis 2035 erreicht sein. (Anmerkung für Österreich: Österreichs Strom kommt zum Großteil bereits aus Erneuerbaren Quellen. Ziel der Regierung ist es, bis 2030 Strom zu 100 Prozent nur mehr aus Wasser, Wind, PV und Biomasse generieren zu können.
Nicht weniger spannend sind die Empfehlungen:
- Verpflichtende kommunale Klimaschutzprogramme bis 2023
- Mindestens zwei Prozent der Flächen für Sonnen- und Windenergie
- Pflicht für Photovoltaik-Anlagen auf Dachflächen
- Förderung von Freiflächen-Photovoltaik, Anlagen auf landwirtschaftlichen und Wasserflächen
- Förderung von Freiflächen-Photovoltaik-Anlagen auf versiegelten und Brachflächen
- Förderung des Windenergieausbaus, Aufhebung der Mindestabstände
- Förderung des Windenergieausbaus –Stärkung der Beteiligung von Kommunen und Bürgerinnen und Bürgern
- Reduzierung der EEG-Umlage und Entfall der Besteuerung der Eigennutzung
- Langfristige Einspeisevergütung für Privatpersonen
- EEG-Umlage auch für energieintensive Industrien
- Ausbau der dezentralen Stromversorgung
- Kohleausstieg bis 2030 (Anmerkung: In Österreich gibt es keine Kohle-Verstromung)
- Stärkung der frühen Bürgerbeteiligung
- Förderung der Bürgerenergie (Anmerkung: Da geht es wie in Österreich um Bürgerenergiegenossenschaften und Bürgerenergiegesellschaften, die sollen bei der Finanzierung und dem Ausbau von erneuerbaren Energiesystemen gefördert werden)
- Orientierung des Strompreises an Angebot und Nachfrage
- Nutzung von E-Autos als Zwischenspeicher im Stromnetz
- Ausbau der Digitalisierung für die Energiewende
- Förderung internationaler Kooperationen
- Verlängerung der Lebensdauer von Elektrogeräten
- Bevorzugung natürlicher CO2 -Speicher
Nicht weniger spannend waren die Ergebnisse beim Thema Mobilität:
Mobilität
Mobilität, so heißt es im Abschlussbericht, bildet heute eine wichtige Grundlage jeder Gesellschaft. Menschen bewegen sich fort, Waren werden transportiert. Allerdings verursacht der Verkehrssektor in Deutschland fast ein Viertel aller Treibhausgasemissionen, und die Höhe dieser Emissionen blieb in den letzten Jahrzehnten unverändert hoch. Für eine Wende im Verkehr müssen die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor bis 2035 um über 90 Prozent reduziert werden. Dafür sind drei Strategien und weitreichende Maßnahmen notwendig: Verkehr vermeiden, Verkehr verlagern und die Effizienz von Fahrzeugen und Antrieben verbessern.
Als Leitsatz wurde formuliert:
- Alle Maßnahmen und Entscheidungen von Bund, Ländern und Kommunen im Bereich der Mobilität müssen ab sofort mit oberster Priorität das Ziel der weitgehenden Klimaneutralität berücksichtigen
Und der Bürgerrat kam zu diesen Empfehlungen:
- Unverzüglicher Ausbau und Optimierung des öffentlichen Personennahverkehrs
- Deutlich günstigerer öffentlicher Personennahverkehr
- Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs mit 70% der Infrastrukturmittel
- Ausbau des Bahn(fern)verkehrs (Deutschlandtakt bis 2035)
- Ausbau des Güterverkehrs auf der Schiene und Reduzierung des Lkw-Güterverkehrs
- Subventionen für den Autoverkehr umschichten hin zu klimafreundlicher Mobilität
- Tempolimit auf Autobahnen, Landstraßen und in Innenstädten
- Aufklärung und Bewusstseinswandel für die Mobilitätswende
- Verkehrsvermeidung durch Einführung eines Homeoffice-Anspruchs
- Unternehmen verpflichten, Anreize für die Nutzung klimafreundlicher Verkehrsmittel zu schaffen
- Förderung des autonomen Fahrens im Bereich des öffentlichen Verkehrs
- Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur
- Förderung von E-Bikes
- Erstzulassung von Verbrennern bis 2027, spätestens 2030 einstellen
- Ausbau von Elektromobilität zügig voranbringen
- Erforschung und Testung aller potentiell klimafreundlichen alternativen Antriebe
- Kosten von Flugreisen müssen Klimakosten abbilden
- Vermeidung von Flügen, insbesondere Kurzstreckenflügen
- Umstellung des Flugverkehrs auf synthetische Kraftstoffe
Übrigens: Nur die Einführung einer City-Maut wurde von den Teilnehmenden knapp abgelehnt.
Gebäude und Wärme
Bei der Umgestaltung unserer Wärmeversorgung geht es zum einen um die Änderung der Erzeugung und Verteilung von Wärmeenergie, zum anderen um die Senkung des Wärmeverbrauchs. Dies geht nur mit einer energetischen Sanierung der Gebäude. Dadurch kann deren Wärmebedarf um bis zu 50 Prozent gesenkt werden.
Der Bürgerrat erstellte diese beiden Leitsätze
- Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, sind Bund, Länder und Kommunen aufgefordert, die Wärmewende durch begleitende Gesetzgebung und eine entsprechende Finanzierung in den nächsten zwei Legislaturperioden entscheidend voranzubringen.
- Gleichzeitig soll die Akzeptanz der Wärmewende durch breit angelegte Informationskampagnen und durch einen fortlaufenden Dialog zwischen allen Beteiligten gefördert sowie der Stellenwert der Handwerksberufe in diesem Bereich erhöht werden.
Und leitete dann folgende Empfehlungen ab:
- Informationen zur energetischen Sanierung breit verfügbar machen
- Staatliche Einrichtungen als Vorbild bei der energetischen Sanierung
- Förderung von energetischer Sanierung nach Finanzierungsschlüssel
- Finanzierung von Sanierungen
- Fachkräftemangel schnellstmöglich angehen
- Sanierungsampel und kostenlose Sanierungsberatung
- Förderung ökologischer Baustoffe
- Förderung von Bürgerengagement in Kommunen
- Digitalisierung in Planung und Bau von Sanierung und Wärme vorantreiben
- Zentrale und vernetzte Dateninfrastruktur für Wärme- und Sanierungsplanung schaffen
- Erneuerbare Wärmeversorgung günstiger machen als fossile
- Unterstützung von Kommunen bei der Erstellung von Sanierungs- und Wärmeplänen
- Abbau klimaschädlicher Subventionen
- Einbauverbot von Öl- und Gasheizungen (ab 2026 und 2028)
- Europaweiter Erfahrungsaustausch
- Privatpersonen präsentieren ihre energieeffizienten Modellhäuser
- Bundesweite Taskforce für die Wärmeplanung
- Verpflichtende Wärmeplanung in Kommunen
Das letzte große Handlungsfeld, mit dem sich der Bürgerrat beschäftigte, betrifft die
Ernährung
Leitsatz:
- Die Umstellung auf eine klimafreundliche Landwirtschaft soll unverzüglich erfolgen und stellt die Versorgung der Bevölkerung mit gesunden, für die gesamte Bevölkerung bezahlbaren Lebensmitteln und den Erzeugenden ein Einkommen sicher
Und daraus kommen folgende Empfehlungen:
- Starkes Eintreten für Klimafreundlichkeit in gemeinsamer EU-Agrarpolitik (GAP)
- Neues Landwirtschaftsgesetz mit Orientierung am 1,5-Grad-Pfad
- Strukturwandel der Landwirtschaft mit Hilfe einer Landwirtschaftskommission und Umstiegsmöglichkeiten
- Subventionsumbau gemäß Klimafreundlichkeit, Umweltleistung und Emissionen
- Emissionsminderung in der Tierhaltung durch Reduzierung der Nutztierbestände
- Eindämmung von Überproduktion, Vernichtung und Verschwendung
- Einhaltung von Produkt-Standards bei Importen und Nicht-Anpassung der Import-Mengen
- Verzicht auf Futtermittel, die auf Rodungen im Ausland gründen
- Exportpolitik klimafreundlich gestalten
- Klimafreundlichkeit und Nachhaltigkeit als Forschungsschwerpunkt
- Abschaffung von Gentechnik und Patenten auf Saatgut
- Neue Ernährungsleitlinien, die am 1,5-Grad-Pfad ausgerichtet sind
- Wahre Preise, die Umwelt- und Gesundheitskosten enthalten
- Verpflichtende Klimaampel als Meta-Siegel für Produkte
- Reduzierung der Vernichtung und Verschwendung im Verbrauch
- Werbeverbote für klimaschädliche Produkte
- Weitgehender Verzicht auf Fleisch-/Milchprodukte durch Aufklärung
- Bildung und Aufklärung zu klimafreundlicher Ernährung für alle Altersstufen
- Demokratisierung und Bürgerbeteiligung im Ernährungssektor
Abschließend ging es um die Frage, wie das schrittweise umgesetzt werden kann, wie diese Sektoren also "transformiert" werden können.
Dazu kamen folgende Empfehlungen:
- CO2 -Preis als verbindliches Instrument für den Klimaschutz
- Transparenz bei der Berechnung, den Einnahmen und der Verwendung der Einnahmen aus dem CO2 -Preis
- Zweckgebundene Verwendung der Einnahmen aus dem CO2 -Preis nach Kriterien des Klimaschutzes und des sozialen Ausgleichs: Hier hatte kein Modell eine Mehrheit: Dass die Einnahmen den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen wollten 29,1%, Dass damit Erforschung und Entwicklung klimaneutraler Technologien gemacht wird, wollten 21,2% , Dass das Geld in den Auf- und Ausbau klimaneutraler Infrastruktur gesteckt wird, hatte mit 41,7% noch die größte Zustimmung.
- Sozialer Ausgleich von Mehrausgaben durch Klimadividende oder Pro-Kopf-Pauschale: Auch hier waren die Ergebnisse nicht eindeutig: Für eine Pro-Kopf-Pauschale und Senkung der EEG-Umlage waren 28,5%, Für eine am Haushaltseinkommen orientierte Klimadividende: 38,4%, für eine am Krankenkassenbeitrag orientierte Klimadividende nur 12,6%
- Nutzung eines Teils der Einnahmen aus dem CO2 -Preis gegen globale Klimafolgeschäden
- Anstreben eines Pro-Kopf-Klima-Budgets
- Prüfung von Steuererleichterungen in anderen Bereichen
Große Zustimmung im Plenum des Bürgerrates
„Interessant ist, dass im Plenum der Großteil der Abstimmungen mit 80 oder 90 Prozent Zustimmung ausgegangen ist, nur ganz wenige haben eine knappe Mehrheit, und nur ein Vorschlag ist abgelehnt worden, jener zur Citymaut“, erklärt der Klimaökonom Erwin Mayer, Experte des Vereins „mehr demokratie!“ und Berater des Klimaministeriums.
Mayer wundert es auch nicht, dass die Empfehlungen des Bürgerrates unterm Strich enorm progressiv und weitreichend sind. „Das ist ja nicht, weil die Menschen von sich aus progressiv sind, sondern weil sie den Ernst der Lage erkennen. Sie wollen dabei aber ein sozial und wirtschaftlich ausgewogenes, gerechtes Ergebnis. Das habe ich weltweit bei allen Bürgerräten in Kanada, England, Schottland oder Frankreich beobachtet.“ Und dass mehr Klimaschutz herauskomme, als sonst im Parlament und von Regierungen vorgeschlagen werde, „freut mich, weil es der zentralen Erzählung der Politik widerspricht, die ja immer sagt, wir würden ja eh gerne mehr machen, aber die Bevölkerung geht da nicht mit. Die Bürgerräte zeigen, dass das nicht stimmt, ganz im Gegenteil. Es geht eigentlich um die Frage, wie die Bevölkerung die Politik mitnehmen kann bei mehr Klimaschutz.“
Dass demnächst auch bei uns Bürgerräte ins Leben gerufen werden, sei vom Plenum des Nationalrats in einem Entschließungsantrag bereits fixiert worden, erklärt Mayer weiter. „Die Abgeordneten der ÖVP, der Grünen und der Neos haben zugestimmt, interessanter weise haben die Freiheitlichen und die SPÖ dagegen gestimmt.“ Es laufen bereits Ausschreibungen, wer den Auftrag für die Organisation übernimmt.
Was da behandelt werden soll? „Ich würde der Politik empfehlen, gerade die schwierigsten Entscheidungen vom Bürgerrat entscheiden zu lassen, weil man dann eine ausgewogene Meinung bekommt.“
Also wundern Sie sich nicht, wenn Sie demnächst zum ersten vom Parlament beauftragten Bürgerrat eingeladen werden!
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