Holocaust-Überlebende: "Ich und die Meinen sind hier, Hitler nicht"
Marianna ist vier Monate alt, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter und der 6-jährigen Schwester aus der Wohnung im damals ungarischen Kosice in ein Sammellager für Juden gebracht wird. Vor dem Abtransport nach Auschwitz darf das Kindermädchen Elisabeth noch in einem Korb Essen für die Familie bringen. Beim Abschied aus dem Lager versteckt sie das Baby in dem Korb und rettet ihr das Leben. Die anderen werden gleich nach der Ankunft in Auschwitz vergast.
Der gute Major
Roman Haller wurde 1944 in Galizien geboren. Seinen Geburtstag kennt er nicht, wohl zwischen dem 7. und dem 10. Mai, in der Nähe von Tarnopol in einem Wald. Der Wehrmachtsmajor Eduard Rügemer und seine polnische Geliebte Irena Gut wussten, dass die Bewohner des örtlichen Ghettos bald liquidiert würden, und beschlossen, 18 Juden im Keller zu verstecken. Doch dann wurde das zu gefährlich und der Major baute den Juden einen Unterschlupf im Wald, wo Roman geboren wurde. Ein Förster half bei der Geburt. Nach heftigen Debatten, ob ein schreiendes Baby alle gefährden würde und man es umbringen solle, beschloss die Gruppe: „Entweder wir werden alle erschossen, oder wir bleiben alle am Leben.“
Mosche Frumin ist ein Jahr alt, als eine Bombe das Wohnhaus in Rovno (heute Ukraine) trifft. Auf der Flucht vor den Nazis fährt seine Familie mit einem Pferdefuhrwerk Richtung Osten, der Vater stirbt, Mutter und Sohn kommen nach dem Krieg nach Österreich und überqueren mit anderen Juden im Winter die Alpen über den Krimmler Pass. Ziel ist die Hafenstadt Genua, von wo aus ein Schiff sie nach Palästina bringen soll. Aber auch das dauert, weil die Engländer die „Empire Comfort“ zunächst nicht anlegen lassen und nach Zypern umleiten.
Der Fluchthelfer
Marko Feingold, geboren 1913 in Ungarn, hat schon vier Konzentrationslager überlebt und war nachdem Krieg einer der Fluchthelfer für Juden, die nach Palästina wollten. Rund 100.000 Überlebende der Schoah gingen über den Brennerpass nach Italien, um ein Schiff zu erreichen, die letzten 5.500 marschierten über die 2.634 Meter hohen Krimmler Tauern. Dabei waren auch die Frumins, Mutter und Sohn.
Das sind nur einige der Schicksale, die Alexandra Föderl-Schmid in dem neuen Buch „Unfassbare Wunder“ beschreibt. Die frühere Chefredakteurin des Standard und Israel-Korrespondentin der Süddeutschen hat 25 Menschen genau zugehört, die ihr Leben einem Wunder, oft aber auch mutigen Menschen zu verdanken haben. Einige haben noch nie über ihr unfassbares Leben gesprochen, andere wie der 103-Jährige Marko Feingold erzählen erstmals Details ihres Überlebenskampfes – im Nazi-Reich, in einem der vielen Konzentrationslager oder auch nach Kriegsende auf der Suche nach Verwandten und einem Platz zum Leben.
Der „Hautfotograf“
Die Fotos sind von Konrad R. Müller, der in Deutschland als „Kanzlerfotograf“ bekannt ist. Er hatte alle acht vor der Linse. Müller sagt in einem Gespräch am Anfang des Buches:„Ich bin ein Hautfotograf. Der Mensch hat mindestens zwei Möglichkeiten der expressiven Ansprache: sein Gesicht und seine Hände.“
Sechs Millionen Juden wurden von den Nazis ermordet, sechs Millionen unsagbar leidvolle Schicksale, von denen einige hier ein Gesicht bekommen. Die 15-Jährige Rachel Oschitzki hat Auschwitz überlebt, weil die Blockälteste ihr eine Ohrfeige gab, als sie ihr wahres Alter sagen wollte. „Die unter 18-Jährigen haben sie gleich ins Krematorium geschickt, das wusste ich noch nicht.“ Nach der Befreiung traf sie einmal auf SS-Frauen, die Hunde auf sie losgelassen hatten. Diese hatten kein Schuldbewusstsein. „Wir haben doch nur die Befehle befolgt.“ Dass ihre Schwester mit dem einjährigen Sohn ins Gas musste, hat sie nicht interessiert. Oschitzky: „Das war so unmenschlich, ich kann es bis heute nicht begreifen.“
Nummern für Babies
„Das Sprichwort – Zeit heilt Wunden – gilt für Auschwitz nicht. Diese Wunde heilt nicht und wird schlimmer, wenn man älter wird“, sagt Eva Umlauf, die in München als Psychotherapeutin arbeitet. Sie wurde 1942 im Arbeitslager Novaky in der heutigen Slowakei geboren, in Auschwitz wurde der damals 2-Jährigen eine Nummer in den Arm tätowiert.
Charlotte Knobloch, geboren 1932, ist seit 1985 Vorsitzende der israelitschen Kultusgemeinde in München. Knobloch ist ihr dritter Name. Geboren als Tochter des Rechtsanwalts Fritz Neuland entging sie 1938 der Deportation in ein KZ, weil die ehemalige Haushälterin des Onkels, Zenzi Hummel, sie in ihrem Heimatdorf als ihr uneheliches Kind ausgab. Ab dann war sie Lotte Hummel, was ihrer „Mutter“ im Dorf Arberg viel Spott eintrug. „Ah, jetzt hat sie ein Bankert aus der Stadt mitgebracht.“ Am Land ging es ihr aber besser, in München hatte die kleine Lotte schon viel mitgemacht: „Auf einmal war ich das Judenkind und durfte nicht mehr mit meinen Freunden spielen. Bis dahin war der Begriff Jude nicht existent. Ich habe nicht gewusst, was das ist.“
Das Buch in jede Klasse
Das Buch „Unfassbare Wunder“ gehört in jede Schulklasse. Bildungsminister Faßmann muss dafür sorgen, dass alle 14-Jährigen in Österreich begreifen, was damals zum Teil viel Jüngeren passiert ist. In Deutschklassen für Flüchtlinge ist das ein ebenso lehrreicher Stoff.
Wir haben noch immer die Chance, Überlebenden zuzuhören. Am kommenden Dienstag wird die Wienerin Helga Feldner-Busztin, die auch in dem Buch vorkommt, ihre Geschichte bei einem KURIER-Gespräch erzählen. Sie hat mit Mutter und Schwester das KZ Theresienstadt überlebt.
Kann so viel Unmenschlichkeit wieder unsere Zivilisation zerstören? Die Ärztin Feldner-Bustin:„ Es gibt Natur-Antisemiten, aber die Juden sind heute zu wenige, als dass es sich auszahlt, die Bevölkerung aufzuhetzen. Diesmal geht es nicht gegen die Juden, sondern gegen die Zuwanderer.“ Harry Merl, der 1934 in Wien geboren wurde und in einem Kohlenkeller überlebt hat, sagt: „In der EU sammeln sich die rechtsradikalen Kräfte, der Antisemitismus macht mir Angst, ein Holocaust ist jederzeit wieder möglich“. Andere fürchten „französische Verhältnisse“, wo der muslimische Antisemitismus stark ist. Trotzdem formuliert Mosche Frumin seine Botschaft an Hitler:„Ich bin hier mit meiner Familie, ihn gibt es nicht mehr.“
Seien wir dankbar, dass es noch Überlebende gibt, denen wir zuhören können. Hören wir ihnen genau zu. Und: Lernen wir daraus.
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