KURIER: Herr Professor Rauchensteiner, Sie sind Historiker und haben sich in Ihrem Buch „Die Zwei. Die Große Koalition in Österreich 1945-1966“ auch mit politischen Verhandlungen auseinandergesetzt, wissen also genau, wie in der Zweiten Republik der Abtausch von Ämtern und Einflussbereichen funktionierte. Seit wann gibt es geheime Sondervereinbarungen zwischen Regierungspartnern?
Manfried Rauchensteiner: Dazu muss man zuerst wissen, dass Koalitionsvereinbarungen anfangs nicht veröffentlicht wurden. Das geschah erst 1963 zum ersten Mal, da wurde zumindest der Hauptteil veröffentlicht.
Das bedeutet: Man brauchte damals keine geheimen Sideletter?
Ja, denn da waren die Abkommen ohnedies geheim, wie unendlich vieles geheim war. Damals galten die Archivsperren bis zu 70 Jahre. Zuerst gab es also Koalitionsvereinbarungen, ohne dass irgendwelche Zusatzvereinbarungen verschriftlich worden wären. Erstmals bin ich dann 1949 auf derartige Vereinbarungen gestoßen, die aber direkt in den Koalitionsvertrag hinein geschrieben wurden. Im Abkommen von 1953 heiß es etwa: „Im Verhältnis zwischen ÖVP und SPÖ gilt der bei den Wahlen am 22. Februar erzielte Proporz. Der Proporz ist derart anzuwenden, dass innerhalb der Spitzenfunktionen auch dieses Verhältnis gilt.“ Verschämter Zusatz: Die Qualifikation muss gegeben sein. Es wurde also alles geregelt – Proporz, egal ob auf Bundes-, Landes- oder Gemeindeebene.
Namen wurden aber noch nicht genannt?
Damals noch nicht. Man sagt nur: Das gehört der ÖVP, jenes der SPÖ, und damit hatte es sich. Am schönsten finde ich, ist dann das Koalitionsabkommen von 1963. Da gab es tatsächlich bereits so etwas wie einen Sideletter. Neben dem eigentlichen Abkommen, das in Teilen auch veröffentlicht wurde, gab es einen großen Komplex, der „Übereinkommen, Kompetenzen und Agrarfragen“ genannt wurde. Darin ging es unter anderem um Schlachtpferde und -rinder. Und es wurde gepackelt und abgetauscht. Auch ein Übereinkommen zu Rundfunk und Fernsehen – wer, was, wo – war dabei. Die für mich herzigste Stelle: Unter IV heißt es „Der bereits derzeit im Fernsehen tätige Prof. Dr. Helmut Zilk ist als zweiter Hauptreferent der Abteilung Jugend und Familie im Fernsehen vorgesehen….“ Auch das Gehalt wird angesprochen. Kurz zusammen gefasst: Der Helmut Zilk soll eine seiner Vorbildung entsprechende Entlohnung bekommen. Steht im Koalitionsabkommen.
Sie sagen, dass schon in der ältesten Großen Koalition alles ganz präzise geregelt wurde. Kam es im Laufe der Zeit zu einer Pervertierung dieser Idee?
Ja, zuerst gab es nur ein mündliches Abkommen über die Bildung der Renner-Regierung. Da wurde überhaupt nichts schriftlich vereinbart. Man bemühte sich nur, den Staat wieder irgendwie in Gang zu setzen. Die Zuständigkeiten aber wurden dann ganz klar im Abkommen gereget. Vieles ist klug formuliert in dem Bemühen, dem anderen Luft zu lassen. Später entwickelte sich das so, dass man beinharte Geschäfte machte, die nur darauf ausgerichtet waren, den Einfluss zu wahren. Ich kann mich an Zeiten erinnern, während der ersten Kleinen Koalition 1983, als die FPÖ die Parole ausgab, alles zu besetzen, was nur geht. „Denn wer weiß, wie lange wir Einfluss haben…“ Nach dem Grundsatz passiert es nach wie vor und immer. Was aber neu ist: Alles wird heute verschriftlicht. Das zeugt von großem Misstrauen.
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