Hilferuf aus der Schule: "Wir brauchen die Reform jetzt"
Die Wiener NMS-Direktorin Andrea Walach hatte im März 2016 durch einen KURIER-Bericht eine bundesweite Debatte über die Missstände im Schulbereich ausgelöst. Sie warnte damals eindringlich vor einer "Verlorenen Generation", die das Schulsystem produziere. Was hat sich seither verändert, wie sieht sie den Streit um die Schulreform?
KURIER: Vor einem Jahr hatten Sie einen Hilferuf abgesetzt, der für sehr viel Bewegung in der Schuldebatte gesorgt hat. Worum ging es damals?
Andrea Walach: Dass unsere Kinder in der NMS Gassergasse, einer Brennpunktschule mit 250 Schülern und mehr als 30 unterschiedlichen Muttersprachen, unserer Meinung nach nicht genügend qualifiziert werden konnten, um in den Arbeitsprozess einsteigen zu können. Der Großteil ist in weiterführende Schulen oder in Lehrberufe gewechselt, doch ein Drittel ist direkt von unserer Schule zum AMS gewechselt. Sie haben praktisch keine Chance, eine eigenständige Existenz aufzubauen.
Wie hat die Politik reagiert?
Wir konnten mit Unterstützung des damaligen Stadtschulrats-Präsidenten Jürgen Czernohorszky ein neues Modell entwickeln, bei dem jedes Kind mit dem, was es braucht, gefördert wird.
Sie hatten also eine klare Vorstellung, was es braucht?
Ja, da ging es nicht um mehr Unterstützung, sondern um die Freiheit, das anders machen zu können, als etwa die NMS-Regeln vorgeben. Wir arbeiten jetzt mit unseren Kindern erfolgreich in kleinen, homogenen Gruppen, nicht mit dem Teamteaching, wo zwei Lehrer in einer Klasse mit 25 Kindern sind. Das Teamteaching hat die Kinder mehr verwirrt als unterstützt.
Was meinen Sie mit homogenen Gruppen?
Wir haben jetzt alle Kinder nach ihrem Wissensstand in sechs Leistungsgruppen eingeteilt. Dadurch habe ich maximal zwölf Kinder in einer Gruppe, das ist optimal.
Und wie sind die Ergebnisse?
Wir bemerken ganz eindeutig positive Ergebnisse, die Leistungen haben sich überall gebessert. Wir haben etwa im September und jetzt wieder im März Lesescreenings gemacht – und es hat sich gezeigt, dass sich alle Kinder verbessert haben, was sonst nie der Fall war. Und das nach nur einem Jahr. Ich bin mir sicher, dass die Ergebnisse noch besser sein werden, wenn unsere Kinder vier Jahre so unterrichtet werden.
Also gibt es tatsächlich Bildungsreformen, die positive Effekte haben können?
Ich bin der festen Überzeugung, wenn man die Schulstandorte so arbeiten lässt, wie sie glauben, dass es für ihre Kinder gut und richtig wäre, würden sich sehr positive Effekte auf die Leistung der Kinder ergeben. Die Schulen müssen die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen.
Ist das ein Plädoyer für die Schulautonomie?
Ich bin für die pädagogische Autonomie und dafür braucht es die gesetzlichen Rahmenbedingungen. Derzeit gibt es etwa ein Limit, wie oft Lehrausgänge stattfinden können. Das kann ich nicht verstehen. Wir haben eine Sondergenehmigung, und können einmal pro Woche den Kindern außerhalb der Schulmauern die Welt zeigen und erklären.
Aber dafür brauchen Sie jetzt deutlich mehr Personal, oder?
Nein. Neu ist bei uns nur ein Schul-Sozialarbeiter.
Denken Sie, wäre die fast ausverhandelte Schulreform zur Schulautonomie gut?
Also die pädagogische Autonomie wäre sicherlich sehr wichtig. Nicht nur für die Neuen Mittelschulen, auch für die AHS, wo derzeit noch dieses Bulimie-Lernen praktiziert wird.
Was meinen Sie damit?
Den Schülern wird aus meiner Sicht die Freude am Lernen verleidet, indem man vorgibt, in zwei Wochen werden genau diese oder jene 20 Seiten Stoff aus diesem Lehrbuch abgefragt. Die Schüler lernen also große Stoffmengen, die sie bei der Prüfung auf einmal ausspucken und dann wieder vergessen. Das ist doch nur kontraproduktiv, und passt in die heutige Zeit einfach nicht mehr.
Wie wirkt der heftige Streit über die Schulreform auf Sie?
Ich glaube, kein Mensch versteht mehr, was die Politik da macht. Wir alle haben die Verantwortung für jedes Kind, das muss im Mittelpunkt stehen, nicht irgendein politischer Hickhack oder dieses Wie-du-mir-so-ich-dir. Wir haben die Verantwortung. Da hat es keinen Sinn herumzustreiten, sondern sie sollten schauen, dass wenigstens ein Teil der Reform beschlossen werden kann. Wir brauchen diese Reform.
Sind Sie für eine Gemeinsame Schule bis 14 Jahren?
Auch diese Streitereien verstehe ich überhaupt nicht. Die Frage ist doch, wie können wir eine Schule gestalten, die für jedes Kind optimal ist? Es ist doch egal, welche Schulform ich habe, solange es eine Individualisierung und eine Differenzierung gibt.
Diskutiert wird auch über Sprachklassen, quasi Ausländerklassen, wo die Kinder nur Deutsch lernen sollen. Können Sie dem etwas abgewinnen?
Als Integrationsklassen schon, für jene Kinder, die eben erst zu uns gekommen sind und kein Wort Deutsch verstehen. Mir würde gut gefallen, wenn diese Kinder einen sprachlichen Grundstock erlernen könnten, gleichzeitig aber erfahren, wie man sich in dem neuen Land zurecht finden kann.
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